Laokoon – Begegnung an überraschendem Ort. Die Rede ist von nur drei hohen Räumen in einer Etagenwohnung von etwa 1890. Sie beherbergen auf ca. 90 qm eine außergewöhnliche Privatsammlung.
Zu einer Besichtigung eingeladen, reiste ich ohne allzu hohe Erwartungen an. Doch mit Erstaunen traf ich auf ein Sammlerehepaar mittleren Alters, beide berufstätig, die sich für eine sehr spezielles Lebensart entschieden haben. Sie sammeln nicht nur einzelne Werke, sondern sie sind vielmehr in ihrer Wohnung total umgeben von Kunst um 1800 bis etwa 1850!
Rotes Zimmer
Im Roten Zimmer, das überwiegend der Landschaftsmalerei gewidmet ist, wendet sich die Büste Goethes von Christian Daniel Rauch (1777-1857), entstanden 1820, Landschaftsstudien zu, u. a. von Carl Blechen (1798-1840), Johan Christian Clausen Dahl (1788-1857) oder Jean-Baptiste Camille Corot (1796-1875).
Grünes Zimmer
Im Grünen Zimmer mit Werken des Frühklassizismus ist inmitten einer Wand mit exquisiter Druckgraphik auch die Wiedergabe eines Hauptwerks des jungen Johann Gottfried Schadow (1764-1850) zu finden. Das Grabmal des Grafen Alexander von der Mark von 1790 in der Alten Nationalgalerie zu Berlin hat der Mannheimer Heinrich Sintzenich (1752-1812) 1793 festgehalten. Darunter steht ein Konsoltisch aus der Zeit von 1780/90 mit einem Herkules Farnese aus Serpentinmarmor sowie einem Werkstattgips der Büste Friedrich Nicolai von Schadow aus dem Jahr 1798.
Die Wandmalerei dahinter stammt von der Hausherrin. Die Ausführung ist genauso perfekt wie die Präsentation der Kunst und der gesamte Zustand der Räumlichkeiten.
Rechts von der Türachse schwebt vor dem Fenster Hebe, die Mundschenkin der griechischen Götter, das berühmte Werk von Antonio Canova (1757-1822) aus dem Jahr 1796. Es handelt sich um einen russischen Eisenguss von 1817 nach dem Original in der Alten Nationalgalerie. Links vom Türflügel sieht man Prinz Friedrich Wilhelm von Braunschweig, bekannt auch als „Schwarzer Herzog“. Dieser Held der Befreiungskriege gegen Napoleon ist präsent in dem erst jüngst aufgetauchten Originalgips des Stuttgarter Bildhauers Philipp Jakob Scheffauer (1756-1808), entstanden 1803.
Blaues Zimmer
Im Hauptraum, dem Blauen Zimmer, spiegelt sich das zentrale Werk der Sammlung. An den Wänden sind zahlreiche kleinere Arbeiten zu entdecken, darunter nicht weit von der Terrassentür im Lichtstrahl das Reliefmedaillon Johann Heinrich Jung-Stilling des Jahres 1806 von Johann Heinrich Dannecker (1758-1841). Wie auch in den anderen Räumen sorgen Berliner Kronleuchter mit Wachskerzen für festliche Atmosphäre. Ihr Entwurf stammt von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841). Zwei italienische Ruhesessel, datierbar um 1825, dienen der Betrachtung der Sammlung und speziell des Laokoon.
Zentrum der Sammlung
Die Laokoongruppe ist weltbekannt als ein Hauptwerk der Vatikanischen Museen. Abgüsse von ihr sind in Antikensammlungen anzutreffen sowie hier und da in repräsentativen Räumlichkeiten öffentlichen Charakters.
Hier nun das eigentlich Undenkbare: das großartige Sinnbild eines ohnmächtigen, heroischen Sterbens steht mitten in einer Privatwohnung, inmitten des Alltags. Gehört hatte ich vorab davon, es mir aber nicht recht vorstellen können. Ich dachte, das sprengt alles. Doch nichts dergleichen. Der Mut des Sammlerpaares hat sich gelohnt. Seit Jahren lebt es im Glück mit diesem grandiosen Werk, auch wenn es von den Spuren der Zeit gezeichnet ist.
Kontext des Laokoon
Bei diagonaler Sicht nimmt man unter dem Deckengesims die Jahreszeitenmedaillons von Bertel Thorvaldsen (1770-1840) wahr und im Grünen Zimmer die Büste Winckelmanns.
Nochmals ein Aufenthalt im Grünen Zimmer mit dem prachtvollen Bücherschrank. In der Mitte steht Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), die Schlüsselfigur für die Entdeckung der Antike und den sich daraus entwickelnden Klassizismus. Seine posthume Büste schuf der Gothaer Künstler Friedrich Wilhelm Eugen Döll (1750-1816) 1777 in Rom. Weil der Marmor Jahrzehnte im Freien stand, ist er etwas mitgenommen.
Rechts vom Laokoon findet sich an der Fensterseite eine Sitzgruppe von Le Corbusier. Einen Fernseher gibt es weder hier noch sonst in der Wohnung. Die kunstbezogene Lebensweise des Sammlerpaares ist von erstaunlicher Konsequenz. Sie ist offensichtlich beflügelt vom fortwährenden Umgang mit dem eigenen Kunstbesitz und dessen Erforschung. Ständig wird auch der Kunstmarkt beobachtet, um durch gezielte Erwerbungen den Bestand weiter zu qualifizieren. Man trifft auf eine Kennerschaft, die vielfach die von Fachleuten übertrifft.
Rechts von der Tür steht ein meisterliches Mixtum compositum. Es handelt sich um einen antiken Torso, den Caroline von Humboldt 1808 in Rom erworben hat. Christian Daniel Rauch ergänzte ihn zu einem elegischen Bacchanten. Das Original steht im Blauen Turmzimmer der Humboldts in Schloss Tegel. Danach entstand dieser um 1848 angefertigte Zinkguss des Berliners Moritz Geiß (1805-1875). Über der Tür ist der Gipsabguss des Herbstmedaillons von Bertel Thorvaldsen von 1823 zu sehen.
Laokoon allein
So reich neugierige Blicke in der Sammlung auch belohnt werden, immer kehren sie jedoch zurück zu Laokoon. Gegen Ende des Trojanischen Krieges entfernen sich die Griechen zum Schein von der umkämpften Stadt und bieten ihr als Weihgeschenk ein riesiges hölzernes Pferd an (mit Kriegern darin). Der Priester Laokoon ahnt die List, warnt seine Landsleute. Da taucht ein gottgesandtes Schlangenpaar aus dem Meer auf und tötet den Vater und seine Söhne. Das von Vergil in der Aeneis berichtete Geschehen fand in dieser Gruppe eine Gestaltung, die seit der Renaissance Künstler wie Kunsttheorie inspiriert und die Vorstellung von hellenistischer Antike geprägt hat.
1506 in Rom entdeckt und sogleich von Michelangelo begutachtet, befindet sich das Marmororiginal seitdem in den Vatikanischen Sammlungen. Eine Ausnahme bilden die Jahre 1798-1815. Denn damals war der Laokoon wie vieles andere als Raubgut von Napoleon nach Paris verschleppt worden. Dort entstanden Gussformen nach den berühmtesten Antiken. Natürlich auch von der Laokoongruppe. Damit wurde dieses Exemplar um 1820 hergestellt. Das Sammlerpaar spürte es z. T. zerbrochen in der Nähe von Avignon auf. Die nächste Station war Berlin. Dort wurde das Werk wieder zusammengefügt und restauriert.
Die Gesamthaltung Laokoons, seine Kopfwendung, der Ausdruck seines Gesichts kurz vor dem Todesbiss der Schlange – kein Leiden eines Helden in heroischer Duldung ist je mehr bewundert und vielschichtiger gedeutet worden. Man denke nur an Winckelmann, Lessing, Schiller oder Goethe, von der Wissenschaft ganz zu schweigen.