Ronchamp – Außenansichten am Morgen: ich gehe gegen den Uhrzeigersinn um den Bau und beginne mit dem häufigsten Blickwinkel von Südosten.

Ronchamp – Außenansichten am Morgen

Notre-Dame-du-Haut, der kleine, aber zugleich so große und monumental wirkende Bau, thront hoch auf seinem Hügel an einem strahlenden Sommertag. Links steht der Hauptturm mit Blitzableiter und kleinem Kreuz. Deutlich ist die Zurückneigung der Südwand.

Rechter Hand ermöglicht die konkave Ostwand Gottesdienste im Freien mit Altar und Kanzel. Während die Kirche nur etwa 200 Menschen aufnehmen kann, ist draußen Platz für ca. 1.200. Beide Gebäudeseiten tragen das mächtige, schwer lastende Dach. Das wirkt zwar massiv, doch Le Corbusier gestaltete es aus zwei gegenläufig gewölbten Schalen. Dazu inspirierte ihn der Körperbau von Taschenkrebsen.

Außenaltar

Ronchamp von Nordost

Die konkave Ostseite fotografiere ich wie tags zuvor von der Stufenpyramide aus. Außenaltar, Kreuz, Kanzel und Chorraum verbindet ein Sockelfläche. Im Fenster über dem Altar steht die Madonnenstatue, die bei Gottesdiensten im Freien gedreht wird. Links in der Wand befinden sich Einschnitte für die Ablage liturgischer Gerätschaften.

Schon hier wird deutlich, dass Le Corbusier jeder Gebäudeseite einen vollkommen eigenen Charakter gibt. Er sprudelt geradezu vor lauter architektonischen Ideen. 

Außenaltar und Rückwand von Ronchamp

Die Wirkung des Baus von Nordosten ist vollkommen anders als von Südosten. Durch das von hier aus flacher erscheinende Dach erhält der Altarbereich eine Art Terrassencharakter mit kräftiger Tiefenräumlichkeit.

Im Gegensatz dazu und zur Südwand bietet die leicht konvexe Nordseite ein reiches Spiel von akzentuierenden Details und den Doppelklang der Zwillingstürme, die einander den Rücken zukehren.

Nordseite

Schön wirkt das freie Zusammenwirken der spielerisch verteilten Fenster und sonstigen kleineren Wandöffnungen mit der kühnen Treppe zur Sakristei.

Notre-Dame-du-Haut von Norden

Die reine Nordansicht zeigt den Dreiklang der beiden 20 m hohen, vorderen Türme mit dem südseitigen Hauptturm. Das links auskragend Dach wirkt nun wie ein dunkles, horizontales Echo auf die Turmrundungen. Die Türme taugen nicht für Glocken. Le Corbusier wünscht überhaupt keine für den Bau. Seine „Sonnenfallen“ sind ihm wegen der innenräumlichen Lichteffekte wichtiger.

Le Corbusiers kühne Treppe

Eine Treppe reduziert auf das Wesentliche: Stufen, Podeste, Handläufe – undenkbar bei deutschem Baurecht. Und dennoch erfreulicherweise kein Hinweis für Eltern mit Kleinkindern, da damit nur auf Selbstverständliches hingewiesen würde. – Man denke an die Verbote bei Rehbergers „Probegrube„.

Westseite

Ronchamp – Außenansichten am Morgen Nordwesten

Im fensterlosen Nordwestbereich gibt es keinerlei Baukanten, vielmehr gerundete Übergänge und eine Art Skulptur im Schatten. Die Ausbuchtung der Kirchenwand dahinter rührt von dem Beichtstuhlpaar im Inneren her.

Jean Prouvé Glockenwand

Zu Le Corbusiers Lebzeiten gibt es keine Glocken auf dem Hügel. Nach seinem Tod wünscht sich der Kaplan welche. 10 Jahre später und 20 Jahre nach der Weihe der Kirche entsteht nach Entwurf des Architekten und Designers Jean Prouvé (1901-1984) im Westen unter Bäumen eine technoide Glockenwand.

So wie beim Campanile in Florenz oder dem Turm von San Marco in Venedig gibt es eine gewisse Distanz zur Kirche. Die beiden größeren Glocken stammen aus ihrem Vorgängerbau. Die kleinste ist neu und der Mutter sowie der Ehefrau von Le Corbusier gewidmet.

Von der Kirchenwand mit ihrer lebendigen Putzstruktur hebt sich das Grau der Skulpturenelemente ab, links die zweigeschossige Treppe vor der fernen Stufenpyramide.

Regenwasserbrunnen

Die Skulptur entpuppt sich als Auffangbecken für einen doppelläufigen Wasserspeier in gleichem dunklen Betongrau. Solche Wasserspeier finden sich auch bei der Neuen Staatsgalerie von James Stirling, einem großen Verehrer von Le Corbusier.

Brunnenskulptur von Le Corbusier

Die roh gefertigte Brunnenskulptur besteht aus einem ovalen, sich konisch verjüngenden Becken, in dem drei Objekte in geometrischen Formen stehen: zwei Pyramiden und ein schräg abgeschnittene Zylinderröhre, in die sich das Regenwasser ergießt.

Hat der Regen den Zylinder bis zur seitlichen Öffnung gefüllt, fließt Wasser in das ovale Becken. Dort erreicht es nur die halbe Höhe, wie es die Spuren am Beton zeigen.

Die Machart im Großen wie im Einzelnen dieser Brunnenanlage könnte kaum gröber sein. Damit steht sie in wirkungsvollem Kontrast zu dem Kirchenbau, dessen Flächen auf andere Weise gleichfalls rau und roh sind, aber doch auf eine viel homogenere Art.

Festtagstür

Ronchamp – Außenansichten am Morgen Haupteingang

Der Gang um den Bau endet auf der Südseite vor dem Hauptzugang. Er wird bei Wallfahrten an „Mariä Geburt“ am 15. September und am Festtag ihrer „Himmelfahrt“ am 15. August geöffnet. Wieder stammt die Malerei in Emailtechnik von Le Corbusier selbst.

Der religionsferne, sich selbst als Agnostiker bezeichnende Architekt präsentiert in dem abstrakten Ensemble von Zeichen, Formen und Farben auch zwei Motive in Rot und Blau, die an Bekanntes erinnern. Links ist es ein Relikt an die Segensgeste des Erzengels Gabriel. Die etwas tiefere blaue Hand rechts erinnert dagegen an die empfangende Geste Marias. Le Corbusier hat damit „Mariä Verkündigung“ auf die denkbar knappste Form verdichtet. Dem einzelnen Gläubigen bleibt die Vervollständigung zur ganzen biblischen Erzählung überlassen.

Gesamtkunstwerk Ronchamp

Bei bewölkterem Himmel, bei dem sich das Weißgrau des Spritzbetons den Wolkentönen annähert, präsentiert sich zum Abschied die Kirche mit weicheren Kontrasten nochmals als das wundervolle Gesamtkunstwerk, als das sie immer im Gedächtnis bleiben wird.