Herkules am Scheideweg und „Der breite und der schmale Weg“ des Pietismus: Dirk Diricks (1613-1653), Doppelblatt, u. l. signiert, Mitte 17. Jh., vermutlich eine Bibelillustration, 30,8 x 41,2 cm, Landeskirchliches Archiv Stuttgart der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (im folgenden: LKAS), Inv.Nr. 92.203. Tamara Scheck M.A. danke ich für frdl. Unterstützung.
Nach den Herkules-Szenen zeige ich einige Parallelen bei bildlichen Beispielen evangelischer Frömmigkeit. Sie stammen vielfach aus der Zeit nach Joseph Anton Koch und Eberhard Wächter, haben aber ihre Wurzeln in älteren Einstellungen pietistischer Kreise, in Schriften, Predigten und Überzeugungen, die um 1800 als bekannt vorausgesetzt werden dürfen.
Der breite und der schmale Weg ist in Württemberg ein eindeutiger, allgemein bekannter Begriff. Bezug nehmend auf die Bibelstelle Matthäus 7. 13-14 steht der Mensch vor der Wahl durch ein breites Tor und unchristliches Verhalten in die Hölle zu gelangen oder durch eine schmale Tür und einen mühsamen Weg ins Himmlische Jerusalem.
Warum wird in Stuttgart von der Kunstschule das Thema „Herkules am Scheideweg“ für die Vaterländische Sammlung in Auftrag gegeben, an einen alten Künstler wie Eberhard Wächter (1762-1852), einen gläubigen Christen? Ist es nicht merkwürdig, dass gerade im Schwäbischen damals und dann bei Charlotte Reihlen ein Passus der Bergpredigt zu einer Bilderflut führt, oft mit Bibelworten und Erläuterungsblättern, die bis heute weltweite Verbreitung findet?
War Herkules vielleicht ein Schwabe?
Was verbindet Herkules mit dem Pietismus? Es ist die Entscheidung zwischen dem Laster und der Tugend, zwischen „Dem breiten und dem schmalen Weg.“ Dieser Beitrag mit einigen pietistischen Darstellungen hat eine Vorstufe, die von dem Hamburger Kupferstecher Dirk Diricks stammt. Links sieht man das Himmelreich mit Christus in der Mitte sowie Gottvater und die Taube des Heiligen Geistes darüber. Rechts herrscht der Antichrist.
Dirk Diricks, Doppelblatt wie zuvor, Hauptseite, u. l. signiert, 30,8 x 18,7cm, LKAS, Inv. Nr. 92.203
In der Mitte der Antichrist und rechts daneben die Hure Babylon auf einem siebenköpfigen Drachen. Darunter der aufgerissene Höllenrachen, in dem zwei Teufel einen Strom von Sündern aller Schichten erwarten, angeführt von einem Bischof. Die Verdammten nähern sich durch eine breite Pforte ihrem ewigen Untergang.
Links am Rand dagegen ein schmaler Weg mit wenigen, die durch ein enges Tor zum Felsen aufsteigen, der Christus symbolisiert
Ist das nicht eine erstaunliche Parallele zur Vorstellung von Herkules, der sich seit der Antike zwischen einem genüsslich bequemen und heldenhaften Leben entscheiden muss und natürlich den mühseligen, schmalen Weg wählt? Belohnt wird das nach dem Tod durch die Aufnahme in den Olymp, in die Welt der Götter. Der schmale Weg des frommen Christen führt gleichfalls nach oben, ins Paradies.
Die Gleichung: Tugend > Himmelsglück – Laster > Höllenpein
Car Kis, „Schmerzlicher Irthum des Ippigen Lebens jetziger Welt Menschen … zu haben bei dem Verfaßer Car Kis in Cannstadt bei dem ehemaligen Fischer Thor“ (Übertragung einer älteren Beschriftung nach einer Restaurierung), um 1800, 34,5 x 29,3 cm, LKAS, Inv.Nr. 00.037
Auf einem Platz, der seitlich von Kirche und Gasthaus gerahmt wird, gibt es im Vordergrund Laster vieler Art: Morddrohung, Geldgeschäfte, Saufgelage, Kartenspiel, Musik, Raufen usw. In der Mitte scheinen aber zwei den rechten Weg zu suchen. Bei einem Kreuz zerren ein Engel und ein Teufel an einem Unschlüssigen. – Daneben geht es Herkules vergleichsweise gut.
In der ansteigenden Landschaft verläuft ein schmaler und steiler Weg neben felsigem Gelände. Wenige gelangen auf ihm direkt in das Himmelreich. Rechts führt ein breiter Weg entlang einer Zypressenreihe die Lasterhaften in halber Höhe in den qualmenden Höllenrachen.
Dies ist eine katholische Variante des Zwei-Wege-Bildes, denn es gibt Seligpreisungen auf Texttafeln und oben Maria als Himmelskönigin über den Aposteln. Also Pietismus in leicht katholischer Färbung.
Ein weiteres protestantisch-pietistisches Bild von katholischer Hand
Johann Evangelist Ling (1813-1887) frei nach der Malerfamilie Renz, Seelenspiegel, um 1840, Kolorierte Lithographie, 31,7 x 25,9 cm, LKAS, Inv.Nr. 92.255
Dieses und die folgenden Blätter können keinen Einfluss auf Eberhard Wächter gehabt haben, denn sie sind nach seinen Herkules-Fassungen entstanden. Aber die Bibelstelle in der Bergpredigt und ihre Auslegung in streng christlichen Kreisen darf in Stuttgart im frühen 19. Jh. als allgemein bekannt gelten.
Ein Vorplatz wird links von einer Kirche mit schmaler Pforte und rechts von einem Gasthaus „Zum wilden Mann“ mit Triumphtor gerahmt. Leute mit selbstgerechten Äußerungen überlegen, zu welchem Durchgang sie sich wenden sollen. Links steigen wenige hinauf zum Himmelreich. Rechts spazieren viele direkt in die Hölle. Worte und Bibelstellen ergänzen die Figuren. Auf Querwegen gibt es noch die Chance der Buße oder die Verdammnis durch Gotteslästerung.
Ling ist katholisch und platziert wohl deshalb eine Madonna über der Kirchentür.
Das erfolgreichste Zwei-Wege-Bild von Charlotte Reihlen
Der breite und der schmale Weg, um 1960 nach der Urfassung von ca. 1860, Lithographie, 47,5 x 37,8 cm, LKAS, Inv.Nr. 18.075
Die Gründerin des Stuttgarter Diakonissenmutterhauses Charlotte Reihlen (1803-1868) hat um 1860 die bis heute verbreitete Darstellung „Der breite und der schmale Weg“ entworfen, in der sich Bild und Bibelworte ergänzen. Auf dem Vorplatz finden sich in der Mitte links analog zu Herkules Schlange und Dornen und rechts neben den Tafeln der Zehn Gebote Ähren und Weintrauben (für Brot und Wein beim Hl. Abendmahl). Ein Pfosten weist zu Tod und Verdammnis und rechts zu Leben und Seligkeit. Das unterstreicht ein Prediger mit seinen Gesten.
Links heißen Bacchus und Venus die Sündigen willkommen. Im Gasthof zum Weltsinn wird getanzt, davor Karten gespielt und getrunken. Alles führt zur brennenden und einstürzenden Höllenstadt, über der eine Seelenwaage schwebt. In jüngsten Darstellungen gibt es dort auch die Twin Towers in New York, die wie 2001 mit Flugzeugen zerstört werden.
Rechts führt die enge Pforte ein in das Reich Gottes, dessen Auge oben über allem wacht. An Kirche, Gekreuzigtem, Sonntagsschule und Kinder-Rettungs-Anstalt führt der Weg den christlichen Wanderer hinauf zum Himmlischen Jerusalem. Dort erscheint Christus als Lamm auf dem Berg Zion.
Detail aus vorigem. Ein Blick auf den breiten Weg, der direkt zu Hölle führt. Stationen dorthin sind Theater, Spielhölle, Lotto, Pfandgeschäfte, Tierquälerei, Schlägerei, genüssliches Reiten, Händel, Mord, Krieg und manches mehr, alles belegt durch Bibelverweise. Selbst die Eisenbahn, an sich anerkannt als hilfreich, erscheint hier, weil sie wie der Gasthof zum Weltsinn und zur „Sonntags-Entheiligung“ beiträgt.
Ausbreitung bis nach Asien
Wie zuvor, „Broad & Narrow Way“, Farbdruck, 77,2 x 42,3 cm, LKAS, Inv. Nr. 18.078: Das Grundmuster des Zwei-Wege-Bildes in einer Variante für China.
Vgl. zum gesamten Beitrag „Schwäbischer Klassizismus zwischen Ideal und Wirklichkeit“, Große Landesausstellung, Kat. Staatsgalerie Stuttgart 1993, S. 73 ff. sowie Wächters Darstellungen des stillen Erduldens: Belisar und Hiob – Zwei alte weise Männer und Belisar.
Wie zuvor, Cat. No. 1004 „Broad & Narrow Way“, Farbdruck, 77,2 x42,3 cm, LKAS, Inv. Nr. 18.078