Michelangelo bei Biberach und anderswo: Hiermit eröffne ich in lockerer Folge eine Reihe „Kleine Kunstgeschichten“. Sie ergibt sich aus meinem Hauptberuf. Ich starte mit einem kuriosen Michelangelo-Mix. In vertretbar kurzer und hoffentlich auch kurzweiliger Art zeige ich bildliche Beziehungen auf. Manches wird in meiner Reihe Neuentdeckung und Erstveröffentlichung sein. Dabei stammen die Aufnahmen stets von mir, sofern nicht anders angegeben. Ich hoffe auf Freude und Neugier beim Betrachten und der Lektüre.

Michelangelos kolossaler David, sein geniales Frühwerk, ist im 18. Jh. geschrumpft zu einer Gartenskulptur im Park von Schloss Warthausen bei Biberach. Nicht gesucht, sondern mit Überraschung gefunden und fotografiert im Juni 2023. Fast sieht es so aus, als bedecke anstelle eines Feigenblatts bald eine zarte Rosenblüte die Blöße des jugendlichen Helden.

Michelangelo bei Biberach und anderswo: der David von 1504

Michelangelo (1475-1564), David: das Original in der Galleria dell‘ Accademia in Florenz, Marmor, 434 cm hoch, entstanden 1501-1504, aufgenommen 2019

Michelangelo bei Biberach und anderswo: die Kopie im Park mit Inga

Auch meine damals noch putzmuntere Inga zeigt sich beeindruckt, wenn auch nicht so begeistert wie ich.

Michelangelo bei Biberach und anderswo: mein Jugendfreund fast in Augenhöhe

Von Inga aufgenommen, bin ich keineswegs viel größer als sie. Ich stehe nur etwas selbstherrlich mit auf Davids Sockel und fühle mich sichtlich bei ihm wohl. Endlich kann ich mich diesem Freund seit Jugendtagen fast auf Augenhöhe nähern. 

Kennengelernt habe ich den David als Schüler 1955 beim ersten Florenzbesuch mit den Eltern. Ab 1964 und der Doktorarbeit über seinen etwas älteren Freund Francesco Granacci (1469-1543) wurde er mir immer vertrauter. 

Michelangelos Jugendfreund Francesco Granacci

Michelangelo bei Biberach und anderswo: Michelangelos Jugendfreund Francesco Granacci

Denn Granacci und der blutjunge Michelangelo wohnen beide nicht weit von der großen Florentiner Kirche Santa Croce. Gegen den väterlichen Widerstand unterstützt Granacci den hochbegabten Jungen und bahnt ihm den Weg zur künstlerischen Ausbildung. Angesichts von Michelangelos sich bereits früh zeigender Genialität beugt sich schließlich sein Vater. Ab 1488 gehören die beiden Freunde zur großen Werkstatt von Domenico und Davide Ghirlandaio. Obgleich sie Fähigkeiten und Temperament bald trennen, bleiben sie lebenslang miteinander in Verbindung. 

So sieht Francesco Granacci um 1490 als Mitarbeiter der Ghirlandaio-Werkstatt aus: gemalt wohl von einem Mitschüler hoch oben in der Hauptkapelle von Santa Maria Novella beim „Gastmahl des Herodes“. Erkennbar von unten sind solche Porträts damals ohne Lampen und Ferngläser nicht.

Ich entdecke und fotografiere dieses Bildnis, als ich Mitte der 1960er Jahre bei der Restaurierung der Fresken als Doktorand auf den Gerüsten herumklettern darf.

Granacci und Michelangelo bei Ghirlandaio

Vermutlich porträtieren sich die Werkstattgehilfen wechselseitig weit oben in der Kapelle. Namen lassen sich bisher mit den 13 hinter den Gästen stehenden Jugendlichen nicht in Verbindung bringen. Abgesehen von einer Ausnahme. Der zweite junge Mann von rechts mit breiter Stirn und verfrühten Geheimratsecken ist Francesco Granacci mit rund 20 Jahren. Man kennt ihn gealtert aus Giorgio Vasaris Künstlerbiographie von 1568. Foto des Freskos Wikimedia.

Michelangelo bei Biberach und anderswo: die Madonna an der Treppe, um 1490, Florenz, Casa Buonarroti

Michelangelo bei Biberach und anderswo: hier in der Casa Buonarroti in Florenz. Als Kostprobe von Michelangelos Genialität in jungen Jahren zeige ich ein Detail seiner wohl frühesten Arbeit in Marmor, 56,7 x 40,1 cm, datierbar um 1490. Die „Madonna an der Treppe“ ist absolut ungewöhnlich in der Deutung und großartig in der Ausführung. Michelangelos spätere Eigenart ist für Nachgeborene bereits zu ahnen. Es ist verständlich, dass die Zeitgenossen sprachlos waren bei dieser Behandlung des Marmors und rätselhaften Auslegung des Themas. 

Michelangelo bei Biberach und anderswo: Michelangelo, die Sklaven des Louvre

Kaum zu zählen sind die Stunden, die ich in meinem Leben vor Werken Michelangelos verbracht habe. Zu diesen Begegnungen gehören auch stets in Paris seine beiden Sklaven im Louvre. Besonders derjenige, der in absoluter Schönheit stirbt. Ausgeführt in Marmor, 229 cm hoch, unvollendet wie so vieles, das Michelangelo nicht zum Abschluss bringen konnte oder durfte. Nicht nur ich bin von der Gestalt und ihrem Gesichtsausdruck hingerissen.

Michelangelo bei Biberach und anderswo: ein Geburtstagsbild von Lovis Corinth

Michelangelo bei Biberach und anderswo: bei Lovis Corinth
Jedesmal freue ich mich, wenn ich im Lenbachhaus in München dieses große Gemälde, einen „Hymnus an Michelangelo“ von Lovis Corinth (1858-1925), sehe: Öl auf Leinwand, sign. und 1911 datiert, 141 x 201 cm. Ein Blumenfest, um die Züge eines sterbenden jungen Mannes einzufassen und zu feiern. Männliche Schönheit und Melancholie angesichts ihrer Vergänglichkeit. Gemalt zum 31. Geburtstag seiner Frau, der Malerin Charlotte Berend-Corinth.
Michelangelo bei Biberach und anderswo: bei Anis Reimann

Und jüngst, rund 110 Jahre später entstanden, die Begegnung mit einer Collage ganz anderer Art, präsentiert in der Staatsgalerie Stuttgart unter der Sammlungstitel „This is tomorrow“ im Rahmen vom „Sommer der Künste. Villa Massimo zu Gast in Stuttgart.Anys Reimann, geb. 1965 in Melsungen, tätig in Düsseldorf, bildet aus verschiedenen Motiven 2022 eine „Odaliske“, 120 x 150 cm, eine Leihgabe der Sammlung Scharpff-Striebich. Die Gestalt kommt mir irgendwie halb vertraut vor. Und in der Tat: wieder treffe ich auf Michelangelo. Nun hat er Anteil an der Darstellung einer Vertreterin des People of Color. Sie wurde 2023 bereits in der Ausstellung „Menschheitsdämmerung, Kunst in Umbruchszeiten“ im Kunstmuseum Bonn gezeigt.

Die Inspiration, die Reimanns Schöpfung nobilitiert, geht aus von Michelangelos melancholischer Aurora. Diese 1524-27 entstandene „Morgenröte“ in Marmor, 206 cm lang, ist eine der berühmten Tageszeiten in der Sagrestia Nuova von San Lorenzo, auch Medici-Kapelle genannt. Foto Wikimedia.

Das Folgende fällt mir erst nach Abschluss dieses Beitrags wieder ein. Und ich ergänze ihn deshalb um zwei Bilder.

Michelangelo in Biberach und anderswo – Nachtrag zu 1961

Marcello Venusti (um 1512-1579) zugeschrieben, Pietà, Foto Wikimedia

München, Frühjahr 1961: mein 1. Semester Kunstgeschichte im Hauptfach (nach 1 Jahr Theaterwissenschaft), Übung vor Originalen im Depot der Alten Pinakothek. Ich habe ein Referat über eine kleine, ziemlich schwache Kopie nach Marcello Venusti zu halten, der seinerseits eine Bildidee des späten Michelangelo überliefert. Vorbild, was ich damals nicht weiß, könnte die folgende Zeichnung sein. Gleich zu Anfang meines Studiums als erstes die Auseinandersetzung mit einem der größten Künstler aller Zeiten!

Ich erinnere mich auch an eine Peinlichkeit. Auf dem Lande aufgewachsen und dort 1960 mit dem besten Abitur ausgezeichnet – mit einem Notenschnitt von 1,9 –, komme ich mir dennoch in der Großstadt nicht qualifiziert genug vor unter lauter weltläufigen (oder sich so gebenden) Kommilitonen. Ich reagiere am Abend vor dem Referat mit Durchfall, schlafe kaum und verliere mitten im Referat die Stimme. Hans Sedlmayrs (1896-1984) Assistent Hermann Bauer (1929-2000) trägt es für mich bis zum Ende vor. 

Ich bin völlig zerknirscht, erhalte aber Note 1. – Mein Beispiel lässt hoffen: seit Jahrzehnten rede ich ohne Manuskript, ohne Durch-, dafür manchmal wie ein Wasserfall. Besonders gern zu Michelangelo in Biberach und anderswo.

Michelangelo zugeschrieben, Pietà für Vittoria Colonna, Schwarze Kreide, 28,9 x 18,9 cm, datierbar um 1538-1544, Boston, Isabella Stewart Gardner Museum, Foto Wikimedia

1961 kannte ich diese Zeichnung nicht. Die Komposition ist eine wichtige Ergänzung von Michelangelos letzten Werken in Marmor, der Pietà Bandini in Florenz und der Pietà Rondanini in Mailand.