Toulouse-Lautrec im Grand Palais 2019/20 ist ein tolles Kunstereignis. Die umfangreiche Pariser Ausstellung „Toulouse-Lautrec, Résolument moderne/entschieden modern“ ist vom 9. Oktober 2019 bis 27. Januar 2020 zu sehen. Es ist unser letztes großes Ausstellungserlebnis innerhalb weniger Tage. Leonardo, El Greco und Degas sind vorausgegangen in diesem famosen Pariser Herbst 2019.
Toulouse-Lautrec heißt eigentlich Henri Marie Raymond de Toulouse-Lautrec-Monfa (Albi 1864-1901 Schloss Malromé, Gironde). Er entstammt dem uralten Adelsgeschlecht der Grafen von Toulouse. Ehen innerhalb der Verwandtschaft beinseiner Vorfahren und Eltern sind wahrscheinlich die Ursache seiner Erbkrankheit und seines kleinen Wuchses von 1,52 m.
Während langer Liegekuren als Jugendlicher beginnt Toulouse-Lautrec zu zeichnen. Mit 17 entscheidet er sich für den Künstlerberuf. Er zieht an den Montmartre und wird Chronist der Bohème. Zirkus, Kabarett und Halbwelt werden sein Lebensraum. Er taucht in all diese Milieus ganz ein und wird Teil davon. Dünkelhaftes Verhalten seines Standes ist ihm fremd.
Suzanne Valadon, die künftige Malerin, als Modell
Weiblicher Akt, 1884, Wuppertal, Von der Heydt Museum
Die Ausstellung startet mit diesem frühen Hauptwerk. Es zeigt Suzanne Valadon (1865-1938), die spätere erfolgreiche Malerin. Sie ist in ihrer Jugend vielfach als Modell tätig. Toulouse-Lautrec präsentiert seine Geliebte ohne Beschönigung, ja fast brutal nüchtern. Masken deuten auf sein frühes Interesse an japanischer Kunst.
Vincent van Gogh, 1887, Amsterdam, Van Gogh Museum
Toulouse-Lautrec lernt van Gogh (1853-98) über den gemeinsamen Lehrer Fernand Cormon (1845-1924) kennen. Er hält den älteren Freund vor einem Absinthglas in einer Kneipe fest. Bald danach wird van Gogh nach Arles aufbrechen.
Zirkus Fernando
Die Kunstreiterin im Zirkus Fernando, 1887-88, The Art Institute of Chicago
Ein packendes Gemälde, das Toulouse-Lautrec als sein bestes ansieht. Es lässt den großen künftigen Plakatkünstler vorausahnen. Ein rücksichtsloser Dresseur peitscht einen Hengst durch die Manege. Die rothaarige Kunstreiterin hält sich angespannt auf ihrem Sitz. Auch ein schwankender Clown bringt das spärliche Publikum nicht zum Applaus. Matt ist die Stimmung, aber glänzend ihre Darstellung.
Gueule du bois (Katerstimmung, auch: Trinkerin), 1887-88, Albi, Musée Toulouse-Lautrec
Als Modell dient erneut Suzanne Valadon. Ein Werk aus dem Museum von Albi, das den größten Bestand an Werken des Künstlers besitzt. Dieser geht auf seine Mutter, Gräfin Adèle Tapié de Céleyran (1840-1930), zurück, die den Sohn um 29 Jahre überlebt.
Ähnlich mitgenommene Gestalten sollten der junge Picasso fesseln.
Carmen Gaudin als Rosa la Rouge
Boulevard extérieur (À Montrouge – Rosa La Rouge), 1889, Paris, Privatbesitz
Die Darstellung der Trostlosigkeit des Straßenstrichs beim Warten auf Freier zeigt sich „résolument moderne/entschieden modern“. Das Modell ist Carmen Gaudin, die Toulouse-Lautrec für viele Rollen wählt. Sie wird auch besonders geschätzt wegen ihrer flammend roten Haare.
Rousse (La Toilette), 1889, Paris, Musée d‘Orsay
Toulouse-Lautrecs Vorliebe für Rothaarige und seine Bewunderung von Degas‘ Szenen von Frauen bei ihrer Toilette zeigen sich hier deutlich. Er gestaltet eine Ateliersituation auf halb zeichnerische, halb malerische Weise. Wieder ist die schlanke Carmen Gaudin sein Modell. Selten gibt es bei Toulouse-Lautrec sonst solche Tiefenräumlichkeit.
La Goulue et Valentin le Désossé
Moulin Rouge. La Goulue et Valentin le Désossé, 1891, Albi, Musée Toulouse-Lautrec
Großer und großartiger Entwurf für eines der berühmtesten Plakate von Toulouse-Lautrec. Valentin der Knochenlose/Étienne Renaudin (1843-1907) erscheint vorne fast wie ein Schattenriss. In größerer Tiefe sieht man vor seitlichen schattenhaften Bewunderern eine hinreißende Cancan-Tänzerin in kühner Haltung. Es ist Louise Weber (1866-1929), weltbekannt als La Goulue/die Gefräßige. Sie gehört zu den Glanzfiguren des Moulin Rouge als Königin der Quadrille. Beim provokanten Wirbel ihrer Bewegungen läßt sie sich unter die Röcke schauen. Sie kann auch mit einer grazilen Fußbewegung den Hut eines Kavaliers erobern. Toulouse-Lautrec sagt von ihr: Sie hat eine Aufrichtigkeit, die man bei keiner anderen findet; mal fröhlich, mal schüchtern, mal kühn oder katzenhaft graziös, geschmeidig wie ein Handschuh.
Königin der Freude
Königin der Freude, 1892, Albi, Musée Toulouse-Lautrec
Das große Plakat zeigt auf satirische Weise, wie eine junge Frau einem greisen, aus der Form geratenen Freier kokett einen Kuss auf die Nase drückt. Daneben sitzt unbeteiligt ein blasierter Frackträger. Weniges genügt Toulouse-Lautrec, um das Milieu anzudeuten. Das geschieht mittels einer noblen Stuhllehne, Weinkaraffe, gutem Besteck, Teller mit Wappen und Fräcken. Dazu gehört auch das aufreizende Rot einer leichten Bekleidung, ein modisches Halsband und ein kecke Locke auf der Stirn.
Die Lithographie erscheint zu dem Buch des polnischen Autors Victor Joze, das den Untertitel trägt „Moeurs du Demi-Monde/Sitten der Halbwelt“. Dargestellt ist die literarische Figur einer jungen Kurtisane. Gegen viel Geld spielt sie in der Öffentlichkeit die Geliebte eines alten Bankiers. Sie ist jedoch nicht.
Leben im Bordell
Im Bett, um 1892, Paris, Musée d‘Orsay
Toulouse-Lautrec taucht mehr und mehr in die Welt seiner Gestalten ein. Schließlich wohnt er monatelang in Bordellen und hält dort fest, was er sieht. Seine Offenheit in jeder Richtung macht ihn zum einfühlsamen Zeugen allen Geschehens. Niemand scheut seinen Blick. So taucht auch das Thema von Homosexualität auf. Man erlebt sie hier am Beispiel zweier Frauen, die noch halb zu schlafen scheinen. Toulouse-Lautrec zeigt alltägliches, ungeschöntes Leben und verwandelt es in meisterhafte Kunstwerke.
Ces Dames au réfectoire, 1893-95, Budapest, Szépmüvészeti Múzeum
Drei „Damen“ warten und stärken sich in einem kargen Pausenzimmer. Ein Spiegel zeigt noch eine vierte Frau. Alltag und Langeweile im Bordell ist das Thema. Um Sex geht es nicht. Alle sind in halshohe Hausmäntel gehüllt. Schal wirkt das Leben dieser Liebesdienerinnen.
Au Salon de la rue des Moulins, 1894, Albi, Musée Toulouse-Lautrec
Etwas aufreizender als im Ruheraum des Bordells präsentieren sich hier die „Damen“ in der etwas schäbigen Pracht eines Empfangssalons. Jung und voller Elan sind sie nicht. Das Warten auf Freier ist dröge. Toulouse-Lautrec versteht es, diese triste Situation einzufangen und die Akteurinnen mit Würde zu versehen.
Ausschnitt aus vorigem. Großartig ist die Darstellung dieser drei geduldig Wartenden ohne erfreuliche Perspektiven.
Frau, sich einen Strumpf anziehend, 1894, Albi, Musée Toulouse-Lautrec
Die intime Ölskizze einer Rothaarigen entstammt vermutlich auch einem Bordell.
Die einzigartige Jane Avril
Jane Avril Jardin de Paris, 1893, Chaumont, Le Signe, Centre National de Graphisme
Nach schwerer Kindheit und Zeiten in einer Nervenklinik beginnt Jane Avril (1868-1943) im Alter von 16 Jahren zu tanzen. Sie wird neben und nach der Goulue eine der großen Cancan-Berühmtheiten des Moulin Rouge. Genannt auch Mélenite (selbst entzündlicher Sprengstoff), liebt sie den Einzelauftritt. Sie fasziniert die Menge auch mit ihren roten Haaren, aufwendigen Hüten und ihrer starkfarbigen Kleidung. Toulouse-Lautrec stellt sie in vielen Situationen dar. In diesem Plakat findet er eine rahmende Einfassung, die sich rankenartig aus dem Kontrabass entwickelt. Mit solcher Gestaltung ebnet er dem Jugendstil den Weg.
Yvette Gilbert
Yvette Guilbert, 1894, Albi, Musée Toulouse-Lautrec
Ein Plakatentwurf für Yvette Guilbert, die Chansonette und Schauspielerin (1865-1944). Toulouse-Lautrec kennt sie seit 1890 aus dem Divan Japonais, einem Kabarett des Montmartre. Rothaarig ist auch sie, hager, mit spitziger Nase. Sie ist nicht sonderlich schön, aber schön schräg. Elegant gekleidet, tief dekolletiert, mit langen schwarzen Handschuhen, liebt das Publikum an Yvette Guilbert auch ihren lustigen und schlüpfrigen Sprechgesang. Sie wird eine Glanzfigur der Pariser Bohème. Und so feiert sie auch Toulouse-Lautrec.
Yvette Guilbert singt „Linger, Longer, Loo“, 1894, Moskau, Puschkin-Museum
In der wunderbaren Skizze sind die ganze Lebenslust und der Esprit der Belle Époque verkörpert. Yvette Guilbert trägt einen populären Song des Jahres 1893 vor. Der Text stammt von Willie Young, die Musik von Sidney Jones.
Schauspielerin Sarah Bernhardt
À la Renaissance: Sarah Bernhardt dans „Phèdre“, Paris, 1893, Bibliothèque Nationale de France
Sarah Bernhardt (1844-1923) ist die bedeutendste Schauspielerin ihrer Epoche und ein Weltstar dank ihrer Tourneen. Hier zeigt sie Toulouse-Lautrec in ihrer triumphalen Interpretation der „Phädra“ von Jean Racine. Es handelt sich wohl um eine Szene mit ihrer Amme, in der es um die Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolithus geht. Stimme, Deklamation und Temperament der Bernhardt fesseln die Zuschauer und wohl auch Toulouse-Lautrec.
Sarah Bernhardt in „Phèdre“ au théâtre de la Renaissance, 1895, Paris, Musée d‘Orsay
Zwei Jahre später ist der Künstler erneut im Renaissance-Theater, das Bernhardt selbst leitet. Mit leichten Federstrichen fixiert er die Aura der großen Interpretin tragischer Rollen.
Jahrmarktsbude auf dem Foire du Trône
Tanz im Moulin Rouge (auch: La Goulue et Valentin le Désossé), 1895, Paris, Musée d‘Orsay
Die uns bereits bekannte Goulue kauft 1895 auf dem Foire du Trône eine Jahrmarktsbude. Toulouse-Lautrec malt ihr für die linke Eingangswand eine große Szene vergangener Tage. La Goulue ist im Begriff ihre Röcke in die Höhe zu werfen, ihr zur Seite der „knochenlose“ Partner mit riesigem Tanzschritt. Hinter der Goulue sieht man die Tänzerin Jane Avril, rechts oben den beleibten Dirigenten Louis Dufour. Man spürt geradezu die Dynamik der Bewegungen, die rauschartige Stimmung im hellen Licht zahlloser moderner Lampen.
La Danse mauresque, auch: Les Almées, 1895, Paris, Musée d‘Orsay
Auf der rechten Zugangsseite der Jahrmarktsbude zeigt Toulouse-Lautrec die aktuelle Aktivität der Goulue. Sie führt alte maurische Tänze vor im Stil der osmanischen Almäen. Hell beleuchtet wirft die Tänzerin im Profil ihr rechtes Bein hoch. Hinten links ist Albert Tinchant als furioser Pianist in Aktion. Er gehört zum berühmten Kabarett und Nachtclub Le Chat Noir auf dem Montmartre. Im Rücken der Tänzerin sitzt rechts ein orientalisches Musikerpaar.
Rückenfiguren verfolgen das Geschehen: von links Gabriel Tapié de Céleyran, ein Arzt und schlaksiger Cousin von Toulouse-Lautrec. Es folgt daneben die breite Gestalt von Oscar Wilde, dann in der Mitte als dunkler Kontrast Jane Avril. Rechts davon reicht ihr Toulouse-Lautrec nur bis zur Schulter. Näher am Betrachter folgt in der Ecke Félix Fénéon, der bekannte Anarchist, Kunstkritiker und Bewunderer des Künstlers. Die beiden Pendants bieten eine spritzige Vergegenwärtigung der pulsierenden Pariser Nachtwelt.
Die Zeit von Madame Lucy und Elles
Frau im Profil (Madame Lucy), 1896, Paris, Musée d‘Orsay
Zur Zeit der Serie „Elles“, mit der Toulouse-Lautrec die Facetten des ihm so vertrauten Dirnenlebens schildert, entsteht auch diese großartige Ölskizze. Nur das bleiche Gesicht ist ausgeführt. Das Übrige sind quasi flackernde Pinselstriche. Großer Auftritt, pompöse Kleidung, eine Kopfbedeckung als Ereignis – alles passt zum glanzvollen Schein der Halbwelt am Montmartre. Dort ist Toulouse-Lautrec zwar ein zu kleiner Mann, zugleich aber ein ganz großer, von allen anerkannter Künstler.
Conquête de passage, 1896, Toulouse, Musée des Augustins
20 Jahre nach Manets Skandalbild „Nana“ in der Hamburger Kunsthalle stellt Toulouse-Lautrec ein entsprechendes Figurenpaar dar. Nun steht da nicht mehr eine bildschöne junge Frau, die den Betrachter keck anblickt. Stattdessen ist eine halbentkleidete, stattliche Prostituierte von hinten zu sehen. Bei der „Conquête/Eroberung“ wartet der Freier auf weitere Entblößung. Es handelt sich um eine Studie für die weltberühmte Mappe „Elles“. Mit nüchternem Blick gibt Toulouse-Lautrec das Leben der Prostituierten in vielen Facetten wieder. Die Art, wie er das mit sicheren, schnellen Strichen macht, lässt Kunstwerke höchsten Ranges entstehen. Dabei durften sich die Dirnen von ihm verstanden und akzeptiert fühlen.
Späte Werke
Romain Coolus, 1899, Albi, Musée Toulouse-Lautrec
Die Porträtskizze zeigt, welch ein Meister Toulouse-Lautrec auch in diesem Genre ist. Der Dargestellte ist René Max Weill (1868-1952), ein Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor, der obiges Pseudonym benutzt.
Messalina steigt die Treppe hinab (L‘Opéra „Messaline“ à Bordeaux), 1900-01, Los Angeles, County Museum of Art
Toulouse-Lautrecs letztes Gemälde in der Ausstellung hat eine um 1900 erfolgreiche Oper zum Thema. Sie ist ein Werk von Isidore de Lara (eigentlich: Isidore Cohen, 1858-1935). Durch die spätantike, nymphomanische Kaiserin Messalina finden zwei Brüder den Tod. In schreiendem Rot schreitet Messalina hoheitsvoll zu ihrem neuen Liebhaber hinab. Der Gladiator Hélion wird seinen Bruder erschlagen und sich dann den Löwen zum Fraß vorwerfen.
Henri de Toulouse-Lautrec endet weniger melodramatisch. Bereits 1899 gesundheitlich schwer angeschlagen, ausgezehrt von Alkohol, exzessiver Lebensweise und Syphilis, stirbt er 1901 auf dem Schloss seiner Mutter bei Albi.
Toulouse-Lautrec im Grand Palais 2019/20 – großer Andrang bei „Toulouse-Lautrec, résolument moderne“ auch noch am späten Nachmittag.