Wahrheit und Lüge vor Gericht: dies ist ein Thema, das die Weltöffentlichkeit betrifft. Lüge, Verleumdung, Falschbehauptung, Hasstiraden, üble Kampagnen in den Medien, Betrügereien aller Art im Netz usw. sorgen für Verunsicherung und Desorientierung. Besonders verabscheuungswürdig ist es, wenn höchste politische Repräsentanten mit solchen Mitteln versuchen, Macht zurückzugewinnen bei gleichzeitiger Missachtung und Gefährdung öffentlicher Ordnung. Unter solchen Umständen ist ein Blick zurück um rund 500 Jahre aufschlussreich. Man trifft lokal auf ähnliche Probleme wie heute.
In der toskanischen Kleinstadt San Gimignano, Weltkulturerbe seit langem und weltbekannt durch seinen mittelalterlichen Stadtkern und die Geschlechtertürme, gibt es einen öffentlichen Ort am Palazzo Comunale, an dem Recht gesprochen wurde. Auf das dort erhaltene Fresko macht mich 1967 Peter Meller (1923-2008) aufmerksam, ein aus Ungarn stammender Renaissancespezialist, der damals wie ich am Kunsthistorischen Institut in Florenz arbeitet. Erst sein Hinweis hilft das Folgende zu verstehen.
Eine Gerichtsszene in San Gimignano
Granaccis Entwurf für ein Gemälde oder ein Fresko
Francesco Granacci, Gerichtsszene mit Wahrheit und Lüge, Feder in Braun, laviert, 26,8 x 29,5 cm, London, British Museum, Inv.Nr. 1936-12-12-33, © The Trustees of the British Museum. Shared under a Creative Commons Attribution-Non Commercial-Share Alike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) licence.
Der ausgearbeitete, etwas ausgeblichene Bildentwurf entspricht im Großen dem Fresko in San Gimignano. Die Protagonisten treten ähnlich auf, nur seitlich um je vier Personen wie in einer Gerichtsverhandlung erweitert.
Unten steht eine lateinische Inschrift: ASPICITE O CIVE QVAM SIT VOLATILE TENPVS / VOLVITVR AEC SENPER NON REDDITVRO ROTA – “Betrachte oh Bürger, wie flüchtig die Zeit ist. Das Rad dreht sich immer und wird sich nicht zurückdrehen.” Dies ist eine deutliche Mahnung beizeiten die Wahrheit zu sagen, um nicht mundtot gemacht zu werden.
Ein Foto dieser Darstellung schickte ich 1966 an Erwin Panofsky, den Doktorvater meines Vaters. Selbst dieser große, seit 1934 in den USA lehrende Kunsthistoriker wusste sie nicht zu deuten. Erst der oben erwähnte Hinweis von Peter Meller auf San Gimignano brachte die Klärung.
Der Richter blickt auf die Wahrheit zu seiner Rechten – also zur wichtigen Seite (für den Betrachter links) – und deutet mit seiner Rechten auf die Lüge.
Die jugendliche Wahrheit mit zarten Gesichtszügen steht auf einem Podest. Sie ist damit als einzige besonders hervorgehoben. Auf ihrem lorbeergeschmücktem Kopf wiederum ein Vogel, in ihrer Linken wohl auch ein Lorbeerzweig.
Die Lüge ist etwas besser zu erkennen. Der größere Vogel auf ihrem Kopf scheint die züngelnde Schlange direkt anzusehen. Die unterschiedlichen Kopfbedeckungen bei den beiden Gruppen könnten vielleicht auch eine spezielle Bedeutung haben.
Wahrheit und Lüge vor Gericht: Verstümmelung als Schandmal
Blick und Handgeste des Richters führen zum Ende des Rechtsstreites und zur Urteilsvollstreckung. Die als Sinnbild ihrer Aufrichtigkeit nackte und jugendliche Wahrheit reißt der Lüge die Zunge aus. Diese wird auch „falsa lingua“ / Falschzüngigkeit genannt. Mit der Strafe wird die Lüge für immer zum Schweigen gebracht. In der Praxis geschah das auch durch Abschneiden der Zunge. Entsprechend pickt der kleine Vogel dem großen in die Brust und der Schlangenstab liegt am Boden. Das schwere Übel der falschen Aussagen findet ein Ende.
Die Inschrift deutet daraufhin, gerade da nicht zu lügen, wo Granaccis Werk platziert werden sollte: nämlich an dem Ort der Rechtsprechung. Der drastische Strafvollzug im Bilde sollte Schwankende bewegen, lieber doch die Wahrheit zu bekennen. Denn die Zeit hätte ein falsches Zeugnis entlarven können. Und dann drohte das Schicksal der Falschzüngigkeit.
Zum Schluss noch ein beruhigender Blick auf San Gimignano im Mai 2016.
Alles hier Mitgeteilte basiert auf meiner Dissertation „Francesco Granacci“, Freie Universität Berlin 1968, veröffentlicht in „Italienische Forschungen, hrsg. vom Kunsthistorischen Institut in Florenz, Dritte Folge, Band VIII“, München 1974, 36, 171, Kat. 77, Abb. 111.
Warum dieser Beitrag jetzt und hier? Unzählige treibt wie mich das widerliche, absolut unverfrorene öffentliche Lügen mancher Zeitgenossen um. Ohne Schamgefühl, ohne Reue, ohne Entschuldigung. Und dies sind nicht einfach Kriminelle, sondern zum Teil Schlüsselfiguren des öffentlichen Lebens. Ihr negatives Beispiel hat zur Folge Hass und Lügen im Netz, um Unentschlossene auf die eigene Seite zu ziehen und auch um Wehrlose zu Opfern zu machen. Das breitet sich aus wie eine Art Pest, die unsere Beziehungen insgesamt befällt und kranken lässt.