Tobias Rehberger: „Probegrube„, New landscapes show up in the unlikeliest places, ein künstlerisches Echo auf S21, gezeigt vor dem Staatstheater im Oberen Schlossgarten in Stuttgart vom 16. Mai bis 4. Juli 2019.
Tobias Rehberger, geboren 1966 in Esslingen, lebt in Frankfurt am Main, ist dort seit 2001 Professor an der Städelschule. Er realisiert mit seinem Studio vielfach Werke für öffentliche Räume, die zwischen Kunst, Design und Architektur anzusiedeln sind. 2009 gewinnt er bei der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen. Seine Raumgestaltung trug den Titel „Was du liebst, bringt dich auch zum Weinen“. Rehberger avanciert zu einem der führenden Künstler Deutschlands, ist seitdem weltweit bekannt und anerkannt.
Die Probegrube von außen – eine Art Spiegelung der Grube von S21
Die Baustelle der „Baugrube“. Diese Aufnahme und sämtliche anderen des Werks werden am Tag vor der Eröffnung, am 15. Mai, gemacht, diejenigen mit Personen entstehen bei der Eröffnung am 16. Mai.
Seit langen Jahren prägt Stuttgarts Zentrum eine große Baugrube. Das Projekt „Stuttgart 21“ (= S21) gibt den bisherigen Kopfbahnhof auf, dreht die Gleisführung um 90 Grad. Alle Verkehrsteilnehmer und Stadtbewohner erleben ein ca. 100 mal 400 m großes Bauloch.
Nach seiner Berufung zum Intendanten des Schauspiels Stuttgart schlägt Burkhard C. Kosminski seinem Freund Tobias Rehberger vor, sich mit S21 zu befassen. Daraufhin entwickeln der Künstler und sein Studio das Konzept der „Baugrube“. Mit der Installation im Oberen Schlossgarten gegenüber vom Schauspielhaus sollte Kosminskis Tätigkeit in Stuttgart eröffnet werden. Die Ausführung zieht sich allerdings bis Mai 2019 hin. Hier die beiden Protagonisten bei der Eröffnung am 16. Mai 2019.
Ich habe die Ehre und Freude, dabei das Werk des Künstlers erläutern zu dürfen.
Es entsteht eine 4 m hohe, über der Erde aufragende Grube – ein schöner Widerspruch in sich.
Fotos von Wänden der gigantischen S21-Grube lässt Rehberger in Aquarelle und diese auf riesige Planen übertragen, um damit seine „Baugrube“ zu verhüllen.
Eine illusionistisch wiedergegebene Baugrubenwand von S21 mit Wandstützen, Firmenschild, Baumaterialien, Überdachung und Müllcontainer.
Gemalte Abschrankung und Abfahrtswege der S21-Baugrube mit einem neuen Container
Tobias Rehberger als Chef seiner „Baugrube“ am Eröffnungsabend
Mein Video der „Baugrube“
Fotografische Impressionen
Dem Video lasse ich eine Bilderreihe folgen, die unterschiedliche Aspekte von Rehbergers Baugrube vermittelt. Ihre in etwa dreieckige Gesamtform orientiert sich am sog. Rosensteinquartier. So wird der künftige Stadtteil genannt, der durch den Fortfall der Gleisanlagen nach Fertigstellung von S21 errichtet werden soll. Unter dem Namen „Prag“ existiert das neu zu gestaltende Stadtareal bereits seit den 1870er Jahren, wird aber vor rund 100 Jahren für den Gleisfächer des damals neuen und heute alten Hauptbahnhofs aufgegeben.
Das Rosensteinquartier wird für die Stadtentwicklung einen noch größeren Gewinn bringen als die neue Bahnstruktur für den Verkehrsknotenpunkt Stuttgart.
In künstlerischer Freiheit spielt Rehberger in seinem stufenreichen Grubenwerk mit den unterschiedlichsten Erwartungen an ein neues Stadtgebiet. Im einzelnen tut er es mit klaren Farben und Formen. In der Gesamtheit vereint er Bürgerwünsche aber in fast flutender und verwirrender Fülle.
Es lassen sich Häuserzeilen, Blockbebauung, Landwirtschaftliches, Baumreihen, Sportareale, Wasserflächen, Villen, Verbindungsstege, Spielfelder und anderes mehr entziffern oder erahnen – also fast alles, was man sich von einer Stadt erhoffen kann.
Die Fülle des Angebots ist wie ein Setzkasten, der einen Schatz von Alternativen birgt und kluges Überlegen anregt. Eine fast irritierende Vielfalt von Farben, Formen, Stufen, Geländern – alles zusammen wie stets bei Rehberger scheinbar verspielt, aber geistreich und humorvoll. Die Erkundungen sind für den Betrachter ein Vergnügen und ein inspirierender Beitrag für stadträumliche Fragestellungen.
Geländervielfalt
Die in der Modellplanung lediglich oben und außen vorgesehenen Geländer zur Unfallverhütung sind in der Ausführung aus baurechtlichen Gründen vervielfacht worden.
Ein blaue Geländernetz überlagert als eine fast eigenständige Gitterstruktur das Hin und Her, das Auf und Ab denkbarer stadträumlicher Flächenformen.
Oberbürgermeister Fritz Kuhn und Tobias Rehberger
An manchen Stellen verselbstständigt sich die Geländerführung als künstlerischer Selbstzweck. Wie hier gewinnt sie eine Autonomie, weil der vermeintlich gefährliche Bereich gar nicht zu betreten ist und daher auch niemand abstürzen könnte.
Alle hier präsentierten Fotos zeigen den idealen, den unversehrten Zustand der „Baugrube“ am Tag vor ihrer Eröffnung.
Leider haben wohl Vorschriften die Verantwortlichen wenig später dazu bewogen, ringsum an vielen Geländern Verbots- und Warnhinweise auf DIN A 4-großen Blättern aufhängen zu lassen. Diese Blätter und ihr Flattern schränkten die Wirkung des Werks enorm ein. Es hätte doch genügen können, die Hinweise auf einem großen Schild neben dem Treppenaufgang bekannt zu geben. Dem steht aber wohl die „german angst“ entgegen.
Geländerlabyrinth
Rehberger-Freunde
Burkhard C. Kosminski und Ulrike Groos, Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart, die 2021 eine große Rehberger-Ausstellung zeigen wird.
Eine schier endlose Bilderflut: aufgenommen, weil das Werk nie wieder so zu sehen sein wird
Einen nierentischartigen kleinen See mit Steg gibt es auch.
Blick von oben auf orangefarbene Altstadtbebauung mit Baumgruppen, Stegen, einzelnen Baublöcken und Schrebergärten. Jeder mag das mit eigenen Assoziationen weiterdenken.
Ein kleiner Sport- und Spielplatz
Probegrube und Medea, das Neueste und Uraltes – eine gute Kombination, die die Spannweite des Schauspielhauses und insgesamt der Staatstheater Stuttgart andeutet.
Insgesamt herrschte ein Bedauern, dass Rehbergers Werk nur auf Zeit zu sehen ist. Es wäre auch eine schöne Bereicherung des Schlossgartens auf Dauer gewesen. Die Stuttgarter erfreuen sich erneut am Überkommenen.
10. Juli 2019