Apoll vom Belvedere und Diskusträger. Aus der Abgeschiedenheit im Lapidarium sollte die Apoll zu seinesgleichen und damit an seinen Bestimmungsort im Schlossgarten zurückkehren.
Mein abschließender Beitrag zum Skulpturenschmuck des Stuttgarter Schlossgartens widmet sich den wenigen männlichen Statuen. Die erhaltenen Werke sind dort keineswegs alle aufgestellt.
So ist am Ende dieses Bilderreigens zu fragen: Wieso steht ausgerechnet die berühmteste männliche Statue der Antike – der „Apoll vom Belvedere“ – zwar an einem recht schönen, aber dennoch am falschen Ort? Warum muss man diesen Apoll in dem etwas friedhofsartigen, abgelegenen und nur selten zugänglichen Ambiente des Lapidariums aufspüren? Warum findet man ihn nicht beim Neuen Schloss?
Fünf Göttinnen und ein Diskusträger
Apoll statt im Schlossgarten – im Lapidarium
Die Aufnahme von 1905 (Detail, Foto Haus der Geschichte) zeigt den Blick vom Rosengarten beim Neuen Schloss über den Ovalsee hinweg zum Herzog Eberhard-Denkmal. Die erste Skulptur im Schlossgarten ist in den 1810er Jahren die kolossale Nymphengruppe von Johann Heinrich Dannecker. Dieses Hauptwerk des Künstlers und des Schwäbischen Klassizismus (vgl. die Ausstellungen 1987 und 1993 der Staatsgalerie) ist jetzt nicht das Thema. Vielmehr geht es um eine kaum erkennbare Statue an der gegenüber liegenden Seite des Ovalsees. Dort lässt König Wilhelm das berühmte göttliche Geschwisterpaar Apoll und Diana aufstellen.
Die Ansicht des Lapidariums rechts erinnert heute entfernt an das ursprüngliche Arrangement. Wiese ersetzt nun Wasser. Und die Nymphen sind in einem Zinkabguss nur lebensgroß und von vorne zu sehen.
Auffindung und Wirkung des Apoll
Ende des 15. Jh. wird das Meisterwerk aufgefunden. Der Marmor gilt für Jahrhunderte als schönste männliche Statue der Antike. Sie ist eine Idealgestalt, die seit der Renaissance fast ununterbrochen Künstler inspiriert, von Dürer an. Vor allem im 18. und 19. Jh. verbreiten sich Kopien in Schlössern und Gärten in ganz Europa. Parallel dazu ist dieser Apoll ein Thema und Maßstab in philosophisch-ästhetischen Schriften.
Goethe 1772 und Schiller 1785
„Mein ganzes Ich ist erschüttert, das können Sie dencken, Mann, und es fibriert noch viel zu sehr, als daß meine Feder stet zeichnen könnte. Apollo von Belvedere, warum zeigst du dich in deiner Nacktheit, daß wir uns der unsrigen schämen müssen ?“
Und Schiller liefert 1785 anonym in dem „Brief eines reisenden Dänen (Der Antikensaal zu Mannheim)“ eine fast hymnische Beschreibung. Sie endet so: „Der Künstler ergriff den Augenblick, wo der zürnende Gott auf den Drachen Python einen Pfeil abgeschossen hatte. Der rechte Arm fliegt eben vom Bogen zurück, der linke behält noch einige Härte und Spannung. – Im Auge ist hoher Unwille und feste Zielung, in der hervortretenden Unterlippe Verachtung des Ungeheuers, in dem schlank gestreckten Halse Triumph und göttliche Ehre.
Das ist Foebos, welchen die Götter im Hause Cronions
fürchten, dem sie sich alle von ihren Sizen erheben,
wenn er sich naht, und wenn er spannt den stralenden Bogen.
Homers Hymnen.“
Das ungeheure Echo dieser Statue beruht auch auf ihrer Beschreibung – oder eher noch Vision – von Johann Joachim Winckelmann in seiner „Geschichte des Altertums“, erschienen 1764. Gerade wegen seiner Fremdartigkeit zitiere ich den Beginn des langen Textes ungekürzt.
Winckelmann 1764
„Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind. Der Künstler hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebaut, und er hat nur ebenso viel von der Materie dazu genommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. Dieser Apollo übertrifft alle andern Bilder desselben so weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden Dichter schildern.
Über die Menschheit erhaben ist seine Gestalt, und seine Stellung zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysium, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und spielt mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäu seiner Glieder. Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten und versuche ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern noch Sehnen erhitzen und erregen diesen Körper, sondern ein himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strom ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllt. …“
Warum steht diese Statue im Abseits des Lapidariums und nicht im Schlossgarten? Ein schöner Platz könnte ein Ort z. B. unter jungen Bäumen sein, den Rücken dem Landtag zugewendet.
Gottlieb Schick, Apoll unter den Hirten
Gottlieb Schick, „Apoll unter den Hirten“, 1806-08, Staatsgalerie Stuttgart. Foto Museum
Der Stuttgarter Maler Gottlieb Schick (1776-1812), ab 1802 in Rom tätig, zeigt Apoll nicht als Schützen, sondern als Gott der Künste, der einfaches Landvolk mit Musik und Dichtung bekannt macht. Alt und Jung beiderlei Geschlechts sind fasziniert. Nur Halbwilde wie die Satyrn rechts äußern „Afterkritik“ (= AfD heute?!).
Dieses Glaubensbekenntnis in die Wirkungsmacht von Kunst überträgt speziell Schiller’sches Gedankengut – nämlich „die ästhetische Erziehung des Menschen“ – erstmals groß ins Medium der Malerei. Das ist kaum denkbar ohne direkten Einfluss von Schillers Freundespaar Wilhelm und Caroline von Humboldt. Schick verkehrt bei diesen Nachbarn in Rom fast täglich.
Das große Gemälde ist ein Hauptwerk des Schwäbischen Klassizismus in der Staatsgalerie Stuttgart und dort seit Eröffnung des Museums im Jahr 1843 zu sehen. Auch in seinem Geiste beschließt König Wilhelm ab ca. 1850 den Schlossgarten mit Statuen zu bereichern. Das damalige Ensemble der Antikenabgüsse im Erdgeschoss des Museums wird um verwandte Werke im benachbarten städtischen Raum erweitert. Die ästhetische Erziehung und Bildung findet auch im Freien des schönen Schlossgartens statt.
Und dort soll ausgerechnet Apoll, der Gott der Künste, der Führer der Musen, weiterhin fehlen? Deshalb mein dringender Appell: die Stadt Stuttgart möge diese Gründungsstatue ihres Skulpturenensembles aus der Entrücktheit des Lapidariums erlösen und ihr wieder einen guten Platz beim Neuen Schloss gewähren.
Schönheiten im Schlossgarten in schützenden Wintergehäusen – vorne rechts der verborgene „Diskusträger“.