Die Platanenallee – eine Allee mit Knick – führte vor 200 Jahren kerzengerade im Unteren Schlossgarten auf den Neckar zu. Mit ihren stattlichen Ausmaßen und dem prachtvollem Wuchs der Bäume ist sie die schönste Allee der Stadt und besitzt seit langem den Status eines Naturdenkmals.
Schlossgartenplan, 55 x 145 cm, Nikolaus Thouret, 1806, Stuttgart, Landesmuseum Württemberg
Dank Napoleon wird Württemberg 1806 ein Königreich. Die kleine Residenzstadt mit ihren rund 20.000 Einwohnern nimmt sich dafür noch ziemlich bescheiden und wenig repräsentativ aus. Um dem abzuhelfen, möchte König Friedrich einen großen Schlossgarten haben. Der berühmte Entwurf seines Hofbaumeister Thouret (1767-1845) sagt dem König zu. Er vermerkt am 9. Januar 1807 darauf: „So soll es seyn.“ Damit ist das Projekt freigegeben. Bereits im gleichen Jahr erscheint der neue Park im Stadtplan (nächstes Bild). Und ab 1808 ist er der Öffentlichkeit zugänglich.
Vom Gartenflügel des Neuen Schlosses ausgehend, verbindet Thouret zwei Elemente: eine zentrale Hauptachse in der Tradition französischer Barockgärten mit freier gestalteten seitlichen Bereichen, die sich am Stil englischer Parks ausrichten.
Thourets Konzeption wird ein entscheidendes Element für die weitere Stadtentwicklung in Richtung Neckar. Und dennoch werden für die Gartenschau von 1961 ohne Not der so wichtige Ovalsee und die Parkallee beseitigt.
Stadtplan, Christian Friedrich Roth, 1807, Staatsgalerie Stuttgart
Anders als Thouret deutet der Geometer Roth eine gerade Fortführung der zentralen Parkallee über die Cannstatter Straße hinaus an. Dort beginnt das Wiesenareal bis hin zum Neckar, wo sich an der Gemarkungsgrenze von Stuttgart und Cannstatt das Dörfchen Berg mit seinen Mühlen an einem Seitenarm des Flusses befindet.
Die Aufschrift Kahlenstein bezeichnet die Anhöhe über dem Neckarknie. Es ist ein beliebtes Ausflugsziel. Dorthin wandert auch der Bildhauer Dannecker mit seinem Gast Goethe im September 1797, um diesem den schönsten Blick auf das gesamte Neckartal zu bieten.
Der gerade Weg zum Kahlenstein
„Residenz-Schloss mit den dazu gehörigen Anlagen“, Quartiermeister Leutnant Bäumlein, um 1815, Stadtarchiv Stuttgart
Die Planungen für einen neuen Weg zum Neckar gehen weiter. Nach dem Tod von König Friedrich werden sie ab 1816 von seinem Sohn König Wilhelm I. fortgeführt. An Thourets Parkanlage schließt sich von der Cannstatter Straße in stumpfem Winkel eine kerzengerade Allee von ca. 1,4 km Länge an, die zum Kahlenstein führt. Gegen Ende leicht ansteigend, ist sie auf die Stadtkirche von Cannstatt ausgerichtet. Platanen werden gepflanzt, die inzwischen gut 200 Jahre alt sind.
Einen direkten Blick auf Cannstatt vom Ende der Allee gibt es nur für etwa 10 Jahre. Denn König Wilhelm lässt sich auf dem Kahlenstein in den 1820er Jahren das Schloss Rosenstein von seinem Hofarchitekten Giovanni Salucci (1769-1845) errichten.
Die bereits aus dem Beitrag Stuttgart von oben bekannte Vogelschau von 1852 zeigt vorne den Beginn der Platanenallee mit den zwei erhaltenen Pferdebändigern in Marmor. Jenseits der quer verlaufenden Cannstatter Straße liegt das große Rondell, von dem Thourets Parkachse zum Neuen Schloss führt. Vorne rechts ist die Bahnlinie nach Cannstatt zu sehen und daneben die später aufgegebene Meierei, ein Gutshof mit Tieren. Oben links liegt die neue Neckarstraße mit ihrer Gabelung am „Neckartor“.
Platanenallee mit den Rossebändigern von Ludwig Hofer (1801-1887), um 1850 und heute.
Reich und Ruhm der Juchtenkäfer
Die Platanenallee ist auch ein Reich des Juchtenkäfers. In hohen Baumhöhlen verborgen und lange so gut wie unbekannt, tritt er mit „Stuttgart 21“ und dem Bahnprojekt Stuttgart-Ulm unerwartet ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.
Eins unserer Lieblingsgedichte in Kindertagen war „Das ästhetische Wiesel“ von Christian Morgenstern: „Ein Wiesel / saß auf einem Kiesel / inmitten Bachgeriesel. / Wisst ihr / weshalb? / Das Mondkalb / verriet es mir im Stillen: / Das raffinier- / te Tier / tat‘s um des Reimes willen.“
Hier ein analoger Versuch: Stets nennt der edle / Juchtenkäfer / sein schwäbisch‘s Mädle / „süßer Käfer“, / sonst mampft er Mulm / für Stuttgart-Ulm.
In Neumondnächten, heißt es, bei absoluter Stille, wenn es jedem im Schlossgarten mulmig wird, singen oder summen wegen des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm die Käfer in ihrem Mulm zuerst zögernd, dann zungenbrechend im Chor:
„Im Mulm, um Ulm, im Mulm herum.“
Ganz begeisterte Nachtwandler berichten, der künftige Stuttgarter Bahnhof reiche als architektonisches Ereignis mit solchem Klang sogar an die Akustik der Elbphilharmonie in Hamburg heran.
Die Allee mit Knick
Friedrich Bohnert nach Topograph Bach, um 1850, Ludwigsburg Museum
Die Bahnlinie verläuft parallel zur kerzengeraden Allee direkt auf das Schloss Rosenstein zu – und dann auf ausdrücklichen Wunsch König Wilhelms im Tunnel darunter zur Neckarbrücke.
Woher rührt der Knick der Allee?
Der Knick ergibt sich vor rund 100 Jahren aus dem Neubau des Bahnhofs von Paul Bonatz, der Vergrößerung der Gleisanlagen und damit verbunden der Errichtung einer neuen Bahnbrücke nach Cannstatt.
Der Wanderer, der vom Zentrum Stuttgarts kommt, hat seitdem nicht mehr Schloss Rosenstein als Ziel vor Augen. – Ist das nicht schade, handelt es sich doch um eine der architektonischen Attraktionen der Landeshauptstadt?
Tunnelbau bei Schloss Rosenstein, 1914 (nach Andreas M. Räntzsch, Stuttgart und seine Eisenbahnen,1987, Abb. zu S. 254).
Die Gleisverlegung rechts am Schloss vorbei und der Tunnel führen zum Fällen vieler Platanen, die damals bereits 100 Jahre alt sind. Als Folge muss der letzte Teil der Allee nach rechts abbiegen. Neue Platanen werden gepflanzt und die beiden Pavillons versetzt.
Beim Blick auf die heutige Allee in umgekehrter Richtung nimmt man die unterschiedlich alten Platanen beim Alleeknick wahr. 100 und 200 Jahre alte Bäume begegnen sich, die sich in ihrer Erscheinung nicht sehr unterscheiden. Die Messung in Brusthöhe von je drei Stämmen ergibt einen Umfang von ca. 310 cm bei den älteren gegenüber ca. 235 cm bei den jüngeren Bäumen..
Vorschlag und Vision
Wäre es nicht denkbar und angemessen – in einer der besonders grünen und baumreichen Städte Deutschlands – nach Fertigstellung von Stuttgart 21 zwei Bäume zu fällen?
Das Ergebnis dürfte in etwa dieser Visualisierung entsprechen: Schloss Rosenstein wäre wieder der Blickpunkt – ein Point de vue!