Meine Seite „Ansichten von und zu Stuttgart“ widmet sich einer Stadt, in der ihre Bewohner so gerne leben wie in kaum einer anderen Deutschlands. Auch für mich gilt, was auf einen gleichfalls aus dem Baltikum stammenden Maler gemünzt war. Über Johann Jakob Müller von Riga (1765-1832) heißt es im Nekrolog: „von Geburt ein Ausländer, ist er durch langen Aufenthalt und Verheirathung in Württemberg einheimisch geworden.“
Kriegs– und Nachkriegszeit
Noch überschaubar in seinen Dimensionen, gerahmt von Hügeln in schöner topographischer Lage, hat Stuttgart seinen Charakter in den letzten Generationen ziemlich gewandelt. Von schweren Kriegsschäden gezeichnet, haben manche rigorosen Taten der Nachkriegsjahrzehnte genauso starke Spuren hinterlassen. Als Augenmensch werfe ich hier in lockerer Folge Blicke auf verschiedene Bereiche der Stadt. Ich versuche zu zeigen, wie sie wurden, was sie waren und was sie heute sind.
Auf das, was sich in den diversen Ansichten offenbart, folgen keine konkreten Vorschläge. Fragen aber schon. Die Antworten und das Handeln liegen in den Händen jüngerer Zeitgenossen.
Vorab möchte ich klarstellen, dass meinen Bildsequenzen keine retrospektive Haltung zugrunde liegt. Selbst wenn gelegentlich ältere Zustände besser aussehen als jetzige, kommt für mich nirgends nostalgisch historisierender Wiederaufbau in Betracht. Der Römer in Frankfurt oder das neue Berliner Schloss sind für mich keine Vorbilder. Die jeweilige Zeit muss mit ihrer Sprache in Architektur und Städtebau angemessene, eben heutige Antworten finden.
Antonio Isopi (Rom 1758-1833 Ludwigsburg) erhielt 1806 aus Anlass der Erhebung Württembergs zum Königreich von König Friedrich I. den Auftrag, die Wappentiere des Landes in monumentaler Form zu gestalten. Seit 1819 stehen sie vor dem Neuen Schloss in Stuttgart.
Fotos von 2010: Als wären sie von den S-21-Aufklebern verletzt, scheinen sich die Wappentiere des Landes schmerzvoll aufzubäumen, brüllend und röhrend. Mit ihrer herausragenden Qualität machen sie verständlich, warum Goethe sich um Isopi für Weimar bemühte.
Eine Stute, das Wappentier Stuttgarts, aus dem Stadtplan von 1807 des Geometers Christian Friedrich Roth.
Florenz und Stuttgart
1975 nach rund 10 Jahren in Florenz hierher nach Stuttgart gekommen, erlaube ich mir, meine Betrachtungen von und zu Stuttgart mit Blicken auf die Arnostadt zu eröffnen. Vielleicht kommt die Einwendung, man könne doch nicht einen solchen Brennpunkt der Kunst und Kultur, den Genies wie Giotto, Dante, Masaccio, Fra Angelico, Donatello, Brunelleschi, Botticelli, Leonardo, Michelangelo, Raffael und noch zahllose weitere geprägt haben, einen solchen Ort könne man doch nicht mit der Schwabenmetropole vergleichen. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Wenn man will, findet man doch manches Verwandte. Man braucht nicht einmal mit Gewalt zu suchen. Auch ist es gut, sich stets am Besten zu messen. Ansonsten ergibt sich kein Ansporn.
Besonders schöne und faszinierende Städte liegen häufig an Flüssen: Paris, London, Prag, Rom. Florenz hat den Arno. Stuttgart schätzt den Neckar, hat ihn aber nicht in seiner Mitte, eher nur am Rande, und will sich ja auch diesem bald mehr zuwenden. Auch lässt die Lage von Florenz und Stuttgart zwischen Hügeln einen Vergleich zu, allerdings ist das Tal am Arno weit, das am Nesenbach eher eng. Schön und lebendig ist die topographische Lage beide mal. In Florenz dürfen an den Hängen schon seit langem keine Neubauten mehr entstehen. Stuttgart dagegen überbaut seine Hügel, und jeder, der es nur irgend kann, strebt zumindest der Halbhöhenlage zu, um wie in Florenz der Schwüle der Kessellage zu entgehen.
Florenz aus Pegasus-Sicht
Das großformatige, um 1900 entstandene Aquarell (109,5 x 79 cm) des englischen Malers Edward Robert Hughes (1851-1914) wurde in London bei Sotheby‘s am 22. September 2009 unter Nr. 37 versteigert. „Nachtidyll“, auch „Walküre“, lautet sein Titel. Der dargestellte Ort wurde nicht erkannt. Die schöne Nackte mit wehendem Haar ist waffenlos und ohne Brünne schwerlich eine Brünhild oder eine sonstige streitbare Begleiterin Odins oder Wotans. In schwindelnder Höhe unterwegs auf einem geflügelten, feurigen Rappen mit qualmenden Nüstern, einer Art Pegasus, inmitten leichter Wolken und vor fernen Sternen, könnte sie eher eine Muse sein. Wohin es geht? Wohl nach Florenz, denn weit unter der Himmelsreiterin im Damensitz sind eindeutig Arno, Ponte Vecchio, Palazzo della Signoria, Dom und Baptisterium zu erkennen.
Sucht die Schöne einen Künstler auf? Nicht nur Träumer mögen das luftige „Nachtidyll“ deuten, wie sie wollen.
Stuttgart und Florenz aus Turmsicht
Stuttgart nicht von einem geflügelten Pferd gesehen, sondern vom Fernsehturm: vergleichbar mit Florenz durch Wolken und Wind, hügelige Umgebung, umrahmt von Trabantenstädten.
Auch wenn diese untereinander und manchmal auch mit ihrer Landeshauptstadt in einer gewissen Spannung, nicht aber in Feindschaft leben, so hat es hier doch niemals Schlachten zwischen einzelnen Stadtstaaten gegeben wie in der Toskana. So lautet ein altes, hartes Florentiner Sprichwort: „Meglio un morto in casa che un pisano all‘uscio.“ –„Lieber einen Toten im Haus als einen Pisaner an der Haustür.“
Obgleich: Cannstatt, eingemeindet und sehr auf eigenen Charakter bedacht, ist und fühlt sich älter als Stuttgart …. siehe übernächstes Bild.
Im Dezember 2017 nach rund viereinhalb Jahrzehnten wieder auf dem Turm des Palazzo Vecchio: ein Blick wie ein Geschenk. Dazu der schöne und blöde Spruch aus Florenz: „Una parola non basta e due sono già troppe.“ – „Ein Wort reicht nicht und zwei sind schon zu viele.“
Eine intakte Stadt par excellence, eine Domkuppel von Brunelleschi, an der sich St. Peter in Rom orientieren sollte. Unvollendet wie sie war, bekam der wackere Baumeister Baccio d‘Agnolo (1462-1543) 1506 einen Umgangsgalerie am Kuppeltambour in Auftrag. Sein jüngerer Zeitgenosse Michelangelo nannte den ersten, Brunelleschis großer Form nicht adäquaten Teil eine „Gabbia per i grilli“, einen Grillenkäfig, und der Weiterbau unterblieb für immer. – Besser keine Ergänzung als eine schwache.
Stuttgart fehlt 1577 in Florenz
Steigt man vom Turm des Palazzo della Signoria/Palazzo Vecchio in die allesamt wieder zugänglichen Ausstellungsräume hinab, so gelangt man auch in die berühmte Sala delle Carte Geografiche. Hier war das Ziel eine Gesamtdarstellung der Welt, so wie man sie um 1560-90 sah. Der Florentiner Stefano Bonsignori (gest. 1589) arbeitete ab 1575 für Großherzog Francesco I. Die Karte von Nordeuropa und Deutschland schuf er 1577. Das Foto ist etwas von der Seite gemacht wegen der spiegelnden Verglasung.
Stefano Bonsignore, Deutschlandkarte, Ausschnitt, 1577, Florenz, Palazzo della Signoria
Bei dieser historisch einmaligen, nicht so ganz genauen Karte freute ich mich geradezu darauf, unser Stuttgart zu entdecken.
Aber welch ein Schock, welch unerhörte Unterlassung: vieles gibt es am „Neccarf[iume]“, am Neckarfluss, wie Rottenburg, Tubingen, Eslingen sowie Canstat. Die Residenzstadt Stuttgart fehlt dagegen gänzlich. Darüber kann kaum hinwegtrösten, dass mit „Vielerestat“ vielleicht erstmals in verballhornter Form Filderstadt genannt wird.
Vogelschau auf Stuttgart um 1850
Vogelschau auf Stuttgart, F. Federer nach F. Wagner, 1852, Staatsgalerie Stuttgart
Ganz ohne Drohne und Kamera, hat sich hier mit beachtlicher Vorstellungs- und Darstellungskraft F. Wagner gedanklich in die Luft erhoben. Es geschah in etwa über dem Rebenberg, dem früheren Galgenbuckel, wo heute Helmuth Conradis vier Hochhäuser der 50er Jahre beim Europaviertel stehen. Von dort bietet er eine einmalig schöne Gesamtansicht auf Stuttgart um die Mitte des 19. Jh..
Noch waren alle Hügel um die Talmulde unbebaut. Die Neckarstraße hatte erst zur Hälfte Wohnhäuser. Auch erkennt man dort die Staatsgalerie (ohne rückwärtige Flügel) sowie die Münze ihr gegenüber.
Vorne rechts sind die gleichfalls erst wenige Jahre alten Bahnlinien zu sehen. In der Mitte geht es nach Cannstatt, rechter Hand nach Feuerbach. Zwischen beiden befinden sich – auf dem Gelände des heutigen Europaviertels und Bahnhofs – die Reiterkaserne und dahinter die Zuckerfabrik. Sie wurden vor dem 1. Weltkrieg im Zuge der Errichtung des Bahnhofs von Paul Bonatz und der dazugehörigen Gleisanlagen abgerissen. Davor sieht man rechts unten das Landhaus König-Fachsenfeld von dem Wilhelma-Erbauer Ludwig von Zanth (1796-1857). Berühmt als eine der schönsten Villen Stuttgarts, fiel es gleichfalls vor gut 100 Jahren den wachsenden Bahnvorhaben zum Opfer.
Der Ausschnitt verdeutlicht die stadtbildprägende Mittelachse des Schlossparks, zu der die Neckarstraße parallel angelegt wurde. Am Ovalsee beim Gartenflügel des Neuen Schlosses sollte sich später die Eugenstraße orientieren und noch wichtiger das Opernhaus. Dies alles ist seit der Gartenschau von 1961 und der Erfindung des Eckensees nicht mehr nachvollziehbar.
Vorne halblinks sieht man die Pferdebändiger, von denen noch immer die Platanenallee in Richtung Neckar ihren Ausgang nimmt.
Erneut Turmfalkensicht
Fast wie in der Höhe F. Wagners über dem Rebenberg geht hier der Blick vom Turm des Palazzo della Signoria in Richtung Osten.
1934: Sicht vom Tagblatt-Turm über die Eberhardstraße in Richtung Leonhardsviertel, Foto Landesmedienzentrum BW.
Überragt vom Breuningerbau, der Leonhardskirche und dem Gustav-Siegle-Haus sieht man ein kleinräumig bebautes Stadtquartier, gewachsen über Jahrhunderte, vielfach gewiss eng und schlecht durchlüftet, aber voller Atmosphäre – einer der Brennpunkte des alten, aber lebendigen Stadtkerns. 10 Jahre nach dieser Aufnahme wurde das Quartier weitgehend zerbombt.
2017: Blick vom Tagblatt-Turm auf das nicht mehr oder allenfalls bruchstückhaft existierende Leonhardsviertel.
Anstelle lebendiger Vielfalt der Vorkriegszeit kolossalische Verwaltungsbauten zweifelhafter architektonischer Qualität: das Schwabenzentrum von Kilpper und Partner, Wettbewerbssieger 1975 – Gebäude, die funktionieren, aber keinen einladenden Stadtraum bilden.
Ist das nicht ein exemplarischer Fall ziemlich trostloser, städtebaulich unbedachter, weil konzeptionsloser Wiederaufbaumentalität? Hatte man hier ein Gesamtbild der Stadtentwicklung vor Augen? Ist es nicht eine Architektur, mit der man zur Not leben kann, aber auch nicht mehr?
Soll den Stuttgartern, darf der Stadt Vergleichbares in Zukunft genügen?