Die Eugenstaffel in Stuttgart und Galatea als Blickachse vom Opernhaus und Theaterplatz: die wohl schönste Staffel Stuttgarts ist zugewachsen und sollte frei geschnitten werden.
In diesem Beitrag geht es um die vernachlässigte Straßen- und Staffelverbindung von Oper und Eugensplatz sowie um den Galateabrunnen. Noch wendet sich Galatea der Stadt zu. Sie wird aber wohl bald, wie hier bereits zu sehen, sich um 180 Grad drehen. Denn sie ist enttäuscht und verärgert. Wegen des Wildwuchses von Büschen und Bäumen ist sie nämlich nur noch aus unmittelbarer Nähe des Brunnens, nicht aber wie früher aus der Ferne wahrzunehmen.
Welche Aufstellung ist der Figur und dem Ort angemessen ?!
Galatea von vorne und von hinten. Wird sie bald Stuttgart „die kalte Schulter“ zeigen? Das hat bereits 1890 ihre Stifterin, Königin Olga von Württemberg, kurz nach der Enthüllung der Skulptur ins Auge gefasst.
Eine Art Schutzpatronin der Stadt
Galatea ist die Bekrönung der Sichtachse vom Opernhaus. Die prachtvolle Brunnenanlage der Gründerzeit gipfelt in der Gestalt der Meeresgöttin. Sie ist eine der 50 Töchter von Nereus und der Okeanide Doris, deren zuhause die Ägäis ist.
Die selbstbewusste Nereide ist es leid, als Blickpunkt der Eugenstaffel nun schon seit Jahrzehnten von der Oper aus nicht mehr sichtbar zu sein. Dabei ist sie als Herrin der Wasser und Wellen fast eine Art Schutzpatronin Stuttgarts mit seinem Reichtum an Heil- und Mineralquellen. Hoch über der Stadt wirkt sie auf anmutig-verführerische Weise wie eine Glücksbringerin.
nach: Max Littmann, Die Königlichen Hoftheater in Stuttgart, Darmstadt 1912
Max Littmann richtet sein Opernhaus nach dem Ovalsee (1961 ohne Not zerstört) und der Eugenstaffel aus und zeigt 1812, wie diese Sichtachse auszusehen hat. Diese Hangachse hat auch Michael Wilford (1938-2023) 1996 in seinem Beitrag „Das Gestaltungskonzept“ in der Eröffnungsschrift „Neubau für die Staatliche Hochschule für Musik …“, S. 31, Abb. 6, besonders hervorgehoben.
Theaterplatz Richtung Galatea: Eine erste Blickblockade bildet der Baum an der Urbanstraße. Wer hat ihn, warum und wann gepflanzt?! Der Baum sollte entfernt werden. Sonne fällt auf den dortigen Spielplatz nur kurz am Morgen. Schatten spenden die hohen seitlichen Häuser.
Analog zu einem Leitsatz von Arno Lederer (1947-2023), dem Architekten und großen „Stadtverbesserer“: „Zuerst die Stadt, dann das Haus“ müsste es hier lauten: Zuerst die Staffel, dann ein Baum. Das heißt in diesem Fall: kein Baum in der Blickachse. Schließlich sollen die Staffeln als Querachsen zum Talverlauf die Fußgänger zur häufigen Benutzung und damit auch zum Verzicht auf das Auto animieren.
Nur vom Balkon des Opernhauses kann man Galatea sehen – ein Unding.
Werastraße Richtung Galatea: Die alte Treppenanlage ist erhalten. Jedoch ergibt sich erst weit oben ein Blick zum Brunnen und seiner Skulptur.
Der Gipfel aller Galatea-Darstellungen in Rom
Raffael, Triumph der Galatea, um 1511, Rom, Villa Farnesina.
Weltberühmt ist das Fresko, das ein Meeresfest zeigt. Maritime Mischwesen und geflügelte Eroten, die Liebespfeile schießen, umkreisen die jugendliche, aus Meerschaum geborenen Göttin. Mit leichten Händen zügelt sie zwei Delphine, die ihr Muschelboot ziehen. Galatea bleibt unberührt von dem Trubel um sie her. Sie blickt hinauf zu einem halb versteckten Putto mit Ersatzpfeilen. Vielleicht ein Hinweis auf eine stillere Art von Liebe, wie sie ihr mit dem Hirten Acis begegnet.
Galateabrunnen, 1890, geschaffen von Otto Rieth (1858-1911) und Paul Stotz (1850-1899).
Die Brunnenfigur erscheint als isolierte Gestalt, umspielt von Kindern, über dem Eugensplatz. Auch diese Galatea ist eine quasi triumphierende Göttin, die sich entsprechend souverän und huldvoll zu ihrer Stadt hinwendet. Dabei hat ihre Geschichte laut Ovids Metamorphosen auch eine traurige Seite, die aber zugleich tröstlich ist.
Ein vergleichender Blick nach Paris
La Fontaine Médicis, um 1620, Paris, Jardin du Luxembourg.
In den 1860er Jahren erhält die triumphbogenartige Wand einen skulpturalen Schmuck, der unser Thema illustriert. Anders und besser als in Stuttgart ist die Szenerie bereits aus größerer Ferne gut zu sehen, weil unbehelligt von seitlichen Bäumen.
Polyphem überrascht Acis und Galatea, Auguste Ottin, 1862-64.
In Marmor ausgeführt, ruht das jugendliche Paar wie auf einer kleinen Insel. Galatea schläft im Schoß ihres Geliebten, der sie verträumt bewundert. Das entdeckt der einäugige Riese Polyphem. Er ist in Bronze gestaltet und wird seitlich gerahmt von Hirt und Nymphe in Sandstein.
Der Zyklop verehrt und begehrt gleichfalls die mädchenhafte Meeresgöttin, aber auf grobschlächtige Weise. Aus Eifersucht schleudert er einen Felsbrocken nach Acis und trifft ihn tödlich. Den Sterbenden „rettet“ Galatea, indem sie ihn in eine Quelle und kleinen Fluss verwandelt. Sein Wasser verbindet sich mit ihr als Meereswelle – ein schönes, ein tröstliches Bild fortdauernder Vereinigung und Liebe.
Anna Sasse aus Berlin als Vorbild
Für Stuttgarts Galatea dient die Berliner Blumenverkäuferin Anna Sasse als Modell. Anders als bei den Göttinnen des Schlossgartens geht es nicht mehr um klassische Idealisierung. Galateas ungewohnt naturnahe Erscheinung mit üppigen Formen und spärlicher Verhüllung verdrießt 1890 viele in der Stadt. Königin Olga, die ungehaltene Spenderin, droht die recht menschliche Meeresgöttin um 180 Grad drehen zu lassen.
Anna Sasse: das Modell für Berolina und Galatea.
Wendet Galatea nun bald ihrer Stadt die „kalte Schulter“ zu?!
Eugensplatz Richtung Opernhaus: eine Fülle von schönem Grün und dennoch ein trauriger Blick. Vom Brunnen aus sollte man das Große Haus sehen können. Und hoffentlich auch bald wieder davor den Schicksalsbrunnen. Als eine der Sehenswürdigkeiten Stuttgarts muss auch Galatea von weitem gut sichtbar sein! So wie z. B. die Grabkapelle auf dem Rotenberg oder Schloss Rosenstein. Sonst bleibt sie eine halb versteckte Attraktion nur für Kenner und Ortskundige.
DU LIEBES GRÜNES TIER, ICH LIEBE DIR …
Unversehens fällt mir jetzt und beim folgenden Beitrag auf, dass es beide mal um eine Anna geht – eine glückliche hier und anschließend um eine glücklose. Zugleich erinnere ich mich „An Anna Blume“, das weltbekannte Dada-Gedicht des Jahres 1919 von Kurt Schwitters (1887-1948). Es beginnt:
„Oh du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe dir! – Du deiner dich dir, ich dir, du mir. – Wir? / … / du liebes grünes Tier, ich liebe dir! / … / Weißt du es Anna, weißt du es schon, / Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du / Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne: / ‚a – n – n – a‘. / Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken. / Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!“