Florenz, Michelangelo, Brügger Madonna: durch dieses Meisterwerk sind Florenz und Brügge seit gut 500 Jahren miteinander verbunden. Es stiftet eine geistige Städtepartnerschaft, nimmt Teil an der Einstufung Brügges als Weltkulturerbe.

Dank an alle der Musea Brugge, die meine kleine Fotokampagne unterstützt haben. Sämtliche Aufnahmen sind aus freier Hand bei Tageslicht gemacht.

This masterpiece has linked the two cities for over 500 years. It creates a spiritual town twinning and is part of Bruges‘ classification as a World Heritage Site.

Thanks to everyone at Musea Brugge who supported my little photo campaign. All photos were taken freehand in daylight.

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Michelangelo, Brügger Madonna, 1501/03-1505, Marmor, 128 cm hoch, Brügge, Museum Liebfrauenkirche/Onze-Lieve-Vrouwekerk, Altar der Familie Mouscron

Anfang des 16. Jahrhunderts ist Michelangelo, dessen Ruhm längst weit über Florenz hinaus strahlt, mit Aufträgen überhäuft. Nur einen Bruchteil davon bringt er zu ende. 1501 verpflichtet er sich allein für den Piccolomini-Altar im Dom von Siena 15 Marmorskulpturen auszuführen.

Florenz, Michelangelo, Brügger Madonna: ein verlockender Auftrag

Die reichen Brügger Tuchhändler und Brüder Alexander und Jan Mouscron haben in Florenz und Rom Niederlassungen. Im Dezember 1503 ist Michelangelos kolossaler David in der Vollendungsphase. Ganz Florenz bekommt das mit und gewiss auch das flandrische Brüderpaar. Obgleich überlastet, übernimmt der 28jährige Künstler auch noch einen Auftrag der Mouscron. Sie zahlen mehr als andere und überweisen ihm 50 Golddukaten als Vorschuss. Im Oktober 1504 folgt die 2. Rate in gleicher Höhe. Im August 1505 ist die Madonna der Mouscron vollendet.

At the beginning of the 16th century, Michelangelo, whose fame had long since spread far beyond Florence, was inundated with commissions. He only completes a fraction of them. In 1501, he undertook to execute 15 marble sculptures for the Piccolomini Altar in Siena Cathedral alone.

The wealthy Bruges cloth merchants and brothers Alexander and Jan Mouscron have branches in Florence and Rome. In December 1503, Michelangelo’s colossal David is in the completion phase. The whole of Florence is involved, and certainly the Flemish brothers as well. Although overworked, the 28-year-old artist also took on a commission from the Mouscron family. They paid more than others and transferred 50 gold ducats to him as an advance. The second installment of the same amount followed in October 1504. The Mouscron Madonna is completed in August 1505.

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Brügge attraktiver als Siena

Im Januar 1506 schreibt Michelangelo aus Rom seinem Vater und bittet ihn die Skulptur in seinem Haus zu verbergen. Im Herbst des gleichen Jahres wird sie nach Brügge verschifft. Vom Haus der Mouscron gelangt sie 1514 in die Liebfrauenkirche. Dort steht sie nach wie vor.

Die Ausführung des Werks für die Mouscron und der Verkauf unter der Hand war bei Michelangelos vertraglichen Bindungen wohl nicht ganz in Ordnung. Denn nach dem Tod des Künstlers zahlt 1564 sein Neffe und Erbe Leonardo Buonarroti 100 Dukaten an die Piccolomini-Nachfahren zurück. Daraus ist zu schließen, dass die Brügger Madonna ursprünglich wohl eine Sieneser Madonna werden sollte.

In January 1506, Michelangelo from Rome asked his father to hide the sculpture in his house. In the fall of the same year, it is shipped and arrives in Bruges. From the Mouscron house, it was transferred to the Church of Our Lady in 1514. It still stands there today.

The execution of the work for the Mouscron family and its sale underhand was probably not entirely in order given Michelangelo’s contractual obligations. In 1564, Leonardo Buonarroti, his nephew and heir, paid 100 ducats back to the Piccolomini descendants after the artist’s death. This makes it clear that the Bruges Madonna was originally intended to be a Sienese Madonna.

Florenz, Michelangelo, Brügger Madonna aus Untersicht

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Michelangelos Madonna, in höchster Vollendung ausgeführt im prachtvollen Marmor aus Carrara, ist hier aus kniender Position aufgenommen. So wie sie Gläubige sahen und sehen, wenn sie sich Mutter und Kind im Gebet zuwenden.

Jacob Burckhardt

Das erinnert mich an ein Bonmot des großen Basler Kunst- und Kulturwissenschaftlers Jacob Burckhardt (1818-1897). Als eine Dame ihn in höherem Alter fragt: „Herr Professor, wie soll ich mich der Kunst nähern?“, antwortet er nur: „Auf den Knien, gnädige Frau, auf den Knien.“

Das gilt im Grunde für alle große Kunst in allen Sparten, deren Wunder uns sprachlos macht und uns so beglückt, dass sich große Mühen für ihr Erleben lohnen. So auch eine Fahrt von 1.300 km von Stuttgart nach Brügge und zurück, nur um dieses Glanzstück der Kunst der Renaissance wiederzusehen und im Reichtum seiner Facetten festzuhalten.

Michelangelo’s Madonna, executed to perfection in magnificent Carrara marble, is depicted here from a kneeling position. Just as the faithful saw and see her when they turn to the mother and child in prayer.

This reminds me of a bon mot by the great Basel art and cultural scholar Jakob Burckhardt (1818-1897). When a lady asked him at an advanced age: “Professor, how should I approach art?”, he simply replied: “On your knees, madam, on your knees.”

This basically applies to all great art in all disciplines, whose wonder leaves us speechless and makes us so happy that it is worth going to great lengths to experience it. So too a journey of 1,300 km from Stuttgart to Bruges and back, just to see this masterpiece of Renaissance art again and capture it in all its richness.

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Nähe und bevorstehende Trennung

Florenz, Michelangelo, Brügger Madonna: Maria betet ihr Kind nicht an. Das tun auch keine Engel, Hirten oder Könige. Sie stillt es nicht, wendet sich ihm nicht einmal zu. Bei aller Nähe ist es fast eine Abschiedsszene. Wir haben sie uns im Freien vorzustellen. Maria sitzt auf einem Steinblock. Gleich wird es zur Begegnung der Kinder Jesus und Johannes kommen. Dabei erhält Jesus von seinem künftigen Wegbereiter und Täufer meist ein aus Schilfrohr gefertigtes Kreuz – ein symbolisches Zeichen für den künftigen Opfertod.

Mary does not worship her child. Neither do angels, shepherds or kings. She does not breastfeed him, does not even turn towards him. Despite all the closeness, it is almost a farewell scene. We have to imagine it outdoors. Mary is sitting on a block of stone. The children Jesus and John are about to meet. Jesus usually receives a cross made of reeds from his future forerunner and Baptist – a symbolic sign of his future sacrificial death.

Fra Filippo Lippi, Pala Barbadori, Paris, Musée du Louvre

Fra Filippo Lippi als Inspiration?

Fra Filippo Lippi (1406-1469), Pala Barbadori, 1437/38, 208 x 244 cm, Paris, Musée du Louvre, Foto Wikipedia Commons

Ein Seitenblick: In Michelangelos Jugendjahren hängt Filippo Lippis große Altartafel in der Kirche Santo Spirito. Er kennt sie gewiss, denn im angeschlossenen Hospital darf er Anatomiestudien an Leichen machen. Als Dank schenkt er der Kirche sein hölzernes Kruzifix, gefertigt mit ca. 17 oder 18 Jahren.

A sideways glance: In Michelangelo’s youth, Filippo Lippi’s large altarpiece hangs in the church of Santo Spirito. He certainly knew it, as he was allowed to carry out anatomical studies on corpses in the adjoining hospital. In gratitude, he gave the church his wooden crucifix, made when he was around 17 or 18 years old.

Hinweis bereits 1971

Könnte es nicht sein, dass Michelangelo für sein so ungewöhnlich auftretendes Jesuskind vom Barbadori-Altar inspiriert worden ist?

Beide Kinder blicken zur Seite. Bei dem Maler Lippi steht das Kind im Tragetuch der Mutter auf seinem rechten Fuß. Das linke Bein ist angewinkelt durch die Spannung des Tuchs.

Michelangelo, der Bildhauer, modifiziert das Standmotiv. Das ausgestreckte rechte Bein steht in der Mantelschlaufe. Diese gewinnt ihre Festigkeit als skulpturale Form durch das Aufsetzen des linken Fußes auf den Steinsockel und Stoff. Die raumplastische Gestaltung Michelangelos geht über Lippi weit hinaus. Es ist auch die Stufe zwischen Hoch- und Frührenaissance.

Vgl. Chr. v. H., in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz XV, 1971, S. 6 f.

Could it not be that Michelangelo was inspired by the Barbadori Altarpiece for his unusual appearance of the infant Jesus?

Both children are looking to the side. In Lippi’s painting, the child is standing on his mother’s right foot in a sling. His left leg is bent due to the tension of the cloth.

Michelangelo, as a sculptor, modifies the standing motif. The outstretched right leg stands in the cloak loop. This gains its stability as a sculptural form by placing the left foot on the stone base and fabric. Michelangelo’s three-dimensional design goes far beyond Lippi’s. It also marks the transition between the High and Early Renaissance.

Florenz, Michelangelo, Brügger Madonna: ein Ahnen der Zukunft

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Mutter und Kind sind eng verbunden. Doch Michelangelo geht es bei aller Nähe nicht um die übliche Innigkeit. Auch gibt es keinem Segensgestus des Kindes für die Gläubigen.

Wir erleben vielmehr einen Ablösungsmoment, den Maria erdulden muss. Das kräftige Kind ist im Begriff erste eigene Schritte zu tun. Zwar ist es noch unsicher, sucht und bekommt noch Halt bei der Mutter.

Eine beeindruckende Hoheit zeichnet Maria aus. Das über der Brust geschlossene Kleid und die schwereren Stoffbahnen ihres Mantels über Schoß und Beinen ergeben einen bergenden Formenreichtum um das Kind. Seine Bestimmung erfüllt die auserkorene Mutter mit ahnungsvollen Gedanken.

Mother and child are closely connected. Yet Michelangelo is not concerned with the usual intimacy, despite the closeness. Nor is there any gesture of blessing from the child for the faithful.

Instead, we experience a moment of detachment that Mary has to endure. The strong child is about to take its first steps. Although it is still uncertain, it still seeks and receives support from its mother.

Mary’s posture is characterized by an impressive majesty. The dress closed over her chest and the heavier lengths of fabric of her cloak over her lap and legs create an enveloping wealth of forms around the child. His destiny fills the chosen mother with foreboding thoughts.

Gesenkte Blicke

Beide haben den Blick gesenkt. Die Mutter hat das Schicksal des Sohnes vor Augen. In ihr sind Hoheit und Schönheit eins.

Both have lowered their eyes. The mother has the fate of her son before her eyes. In her, majesty and beauty are one.

Sprache der Hände

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Maria liest nicht mehr. Sie hat ihr Buch in den Schoß gelegt. Lose liegt ihre Hand darauf. Aber was für eine Hand! Wunderschön in der Entspannung und mädchenhaft unausgeprägt in Form und Charakter.

Maria is no longer reading. She has put her book in her lap. Her hand rests loosely on it. But what a hand! Beautiful in its relaxation and still girlishly undeveloped in form and character.

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Florenz, Michelangelo, Brügger Madonna: Marias Knie bilden die Stützen für das Jesuskind. Leicht zurückgelehnt steht es dazwischen. Und will doch aufbrechen zur Begegnung mit dem kaum älteren Johannes. Der wird noch vor ihm den Tod finden – so wie es die verführerisch tanzende Salome von Herodes fordert.

Mary’s knees form the supports for the infant Jesus. He stands between them, leaning back slightly. And yet he wants to set off to meet the barely older John. He will die before he does – just as the seductively dancing Salome demands of Herod.

Anmut, Natürlichkeit, Kunst der Gestaltung

Michelangelo hat die Körperhaltung des Jesuskindes ganz hinreißend und komplex gestaltet. Der geneigte Kopf mit pausbackigem Gesicht neigt sich nach unten und zur Seite. Fülliges, fast flammendes Haar verleiht ihm eine beachtliche Größe. Der kräftige Kinderkörper lehnt sich sich nach links. Das Bein der Mutter stützt ihn, an dem er sich mit seiner gespreizten Kinderhand festhält.

Michelangelo’s depiction of the Child Jesus‘ posture is enchanting and complex. The tilted head with a chubby face leans downwards and to the side. Full, almost flaming hair lends him considerable height. The strong child’s body receives its decisive support from the left side. The mother’s leg supports him, to which he holds on with his outstretched child’s hand.

Florenz, Michelangelo, Brügger Madonna: bildnerische Poesie

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Die Linke der Mutter liegt auf seinem Oberarm und umfasst sein rechtes Händchen. Das Zusammenwirken und die Anordnung der Hände mit Mantel- und Ärmelstoffen zeugt von großartiger Vorstellungskraft und absolut meisterhafter Ausführung. Solche Details sprechen uns noch genauso unmittelbar an wie Michelangelos Zeitgenossen vor 500 Jahren.

The mother’s left hand rests on his upper arm and clasps his right hand. The interaction and arrangement of the hands with the cloak and sleeves is evidence of great imagination and absolutely masterful execution. Such details speak to us just as directly as they did to Michelangelo’s contemporaries 500 years ago.

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Florenz, Michelangelo, Brügger Madonna: Alles in allem: eine große Intensität zweier Persönlichkeiten mit sich trennenden Lebenswegen in Erfüllung ihres göttlichen Auftrags. Michelangelo stattet sein Werk mit einem Reichtum des Empfindens und einer Schönheit der Formen aus in einer nicht zu überbietenden Meisterschaft des Gestaltens im Ganzen wie im Detail.

All in all: a great intensity of two personalities with divergent lives in the fulfillment of their divine mission. Michelangelo endowed his work with a richness of feeling, a beauty of form and a mastery of design, both overall and in detail.

Zauber von Details

Michelangelo, Madonna mit Kind, Brügge, Liebfrauenkirche

Ein willensstarker kleiner Junge zwischen Nähe zur Mutter und Aufbruch in sein eigenes Leben.

A strong-willed little boy between closeness to his mother and setting off into his own life.

Eine für Michelangelo so typische Körperwendung, hier hinterlegt von der Spiegelung eines Kirchenfensters im Schutzglas vor der Skulptur.

A turn of the body so typical of Michelangelo, here backed by the reflection of a church window in the protective glass in front of the sculpture.

Dieser Jesusknabe Michelangelos hätte auch ein Herkules werden können!

This Michelangelo’s boy Jesus could also have been a Hercules!

Zum Schluss noch zwei Details: der Steinsockel und seine Kante, auf dem der linke Fuß der Madonna ruht. Daraus entwickelt Michelangelo die Pose des Kindes zwischen Halten und sich Lösen.

Finally, two more details: the stone plinth and its edge, on which the Madonna’s left foot rests. From this, Michelangelo develops the child’s pose between holding and releasing. 

An diesem Detail ist vieles zu bewundern. Ganz besonders, dass es Michelangelo gelingt, im harten Marmor die geschmeidige Form eines Schuhs aus weichem Leder wiederzugeben. Selbst die Zehen sind in seiner leicht bewegten Oberfläche zu ahnen.

There is much to admire about this detail. In particular, Michelangelo succeeds in reproducing the supple shape of a shoe made of soft leather in the hard marble. Even the toes can be sensed in its slightly moving surface.