Nicolas Poussin, Herkules am Scheideweg und seine Nachwirkung: Ausgangspunkt meines Beitrags ist ein einflussreiches Werk, entstanden in Rom 1636/37, Öl auf Leinwand, 88,3 x 71,8 cm, Stourhead, Wiltshire, National Trust, Nr. 33866. Um 1930 gilt es als verschollen, existiert aber an Ort und Stelle. 1946 gelangt Stourhead, das schlossartige Landhaus im palladianischen Stil und seine noch berühmtere Gartenanlage, in die Obhut des National Trust, dem ich für die gute Bildvorlage danke.

Für heutige Augen sind ein nackter Kraftprotz mit einem Löwenfell und zwei unterschiedlich bekleidete junge Frauen eine reichlich seltsame Konstellation. Für Eliten vergangener Jahrhunderte war es ein bekanntes mythologisches Thema. Der Held Herkules mit Lorbeerkranz und Riesenkeule wendet sich der weiß gekleideten Virtus zu, der Tugend, und trifft damit eine Lebensentscheidung. 

Das Bild hat eine wundervoll einfache und klare Komposition. Herkules frontal, die beiden Frauen als Gegenspielerinnen im Profil, Licht auf dem Helden und der verführerischen Voluptas. Das Gesicht der Virtus ist verschattet. Aber ihre Hand im Licht weist den gebotenen Weg zu Beschwernis und Ruhm. Ihr schlichtes Kleid und die bloßen Füße stehen für Bescheidenheit, Armut und Not auf dem steilen und schmalen Weg der Tugend.

Nicolas Poussin, Herkules am Scheideweg und das Echo, Stourhead

Detail aus vorigem

Nicolas Poussin, Herkules am Scheideweg und das Echo, Stourhead

Detail aus vorigem. Die leichter bekleidete Voluptas, ein durchaus ansprechendes Laster in herrlicher poussin‘scher Malweise und Farbigkeit. Die junge Frau zeichnet sich aus durch eine fast tänzerische Pose, Blumenkranz im frisierten Haar, bloße Schulter, halb entblößtes Bein und goldgeschmückte Sandalen. Der als Liebesgott gefährliche kleine Amor, dessen Bogen am Boden liegt, gebärdet sich als harmloser Rosenfreund. Die Blumen aber stehen für Schönheit, Frische, Duft, Liebe und damit für Verführung.

Der das schreibt, weiß, wovon er spricht, pflegt er doch seit mehr als 25 Jahren einen Rosengarten vor dem Haus mit 60 Stöcken.

Nicolas Poussin, Herkules am Scheideweg und seine Nachwirkung: Robert Strange 1759

Nicolas Poussin, Herkules am Scheideweg und das Echo, Stourhead - Graphik von Robert Strange

Bei meinen Recherchen stoße ich natürlich auf die grundlegende Schrift „Herkules am Scheidewege …“ von Erwin Panofsky (1892-1968), dem wohl bedeutendsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Darin geht er auch auf Poussin ein, den er treffend als „Klassiker der Klassizisten“ bezeichnet, und bespricht eingehend diese Komposition, die er nach der Radierung des Schotten Robert Strange (1721-1792) beurteilt.

Denn das Gemälde oder ein Foto davon kennt Panofsky nicht. Die qualitätvolle graphische Wiedergabe, Blatt 51,3 x 38,8 cm, Bild 46 x 36,3 cm, lateinisch und englisch bezeichnet und 1759 in London entstanden, befindet sich seit Generationen auch in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart. 

Ein privates Wort zu Erwin Panofsky

Erwin Panofsky (1892-1968), Foto Wikimedia

Bei Panofsky, Foto Wikimedia, hat mein Vater Niels von Holst (1907-1993) 1929, ein Jahr vor dem Erscheinen des Buches, in Hamburg promoviert, mit 22 Jahren und der besten denkbaren Bewertung (summa cum laude). Das ist bis zu Panofskys Emigration 1934 in die USA nur noch einem gelungen: Ludwig Heydenreich (1903-1978), ab 1946 Gründungsdirektor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München und vieles mehr.

Des Öfteren hat mir mein Vater, als ich Anfang 20 war, sein Beispiel unter die Nase gerieben. Doch ich bestand als Werkstudent auf meinem Rhythmus und schloss das Studium erst mit 27 ab und dann noch eine Note schlechter. 

1966 durchquere ich dank eines Promotionsstipendiums mit Greyhound-Bussen 99 Days for $99 die USA. Ich rufe den für mich damals uralten Panofsky an, grüße von meinem Vater und er darauf: „Is he still around“. Ein schwieriges Deutungsproblem bei meiner Dissertation – eine hier bereits vorgestellte Gerichtsszene von Francesco Granacci (1469-1543) – unterbreite ich ihm in einem Brief. Auch Panofsky weiß keine Antwort. Er beschließt seine Zeilen mit dem sokratischen Satz: „Wir wissen, dass wir nichts wissen.“ 

Poussin/Strange – Ausgangspunkt von „Hetsch“

nach Poussin bzw. Robert Strange, Auktion Karl & Faber 2024, Nr. 324

Die klassisch ausgewogene Darstellung wirkt auch ohne Kenntnis von Poussin und Strange. Nach letzterer als unmittelbarem Vorbild ist sie jedoch entstanden und hat sogar deren Format. Dieses bisher unbekannte Echo auf Poussin wurde jüngst dem Schwaben Philipp Friedrich Hetsch (1758-1838) zugeschrieben: Öl auf Leinwand, 46,2 x 37,6 cm, Auktion Karl & Faber, München, Nr. 324, 17. Mai 2024, Los 29, Foto Auktionshaus.

Aus stilistischen Gründen kann Hetsch nicht der Autor sein. Auch ist von einer Beschäftigung mit Poussin nichts bekannt.

Nach Strange eine weitere Inspirationsquelle

Nicolas Poussin, Herkules am Scheideweg und das Echo: Johann Heinrich Lips, Kunsthaus Zürich

Johann Heinrich Lips, Herkules am Scheideweg, bez. u. l. „Joh H Lips fec“ und r. „Robertus Strange del“, 28,6 x 22,8 cm, Kunsthaus Zürich, Grafische Sammlung, Foto Jonas Beyer

Nach dem Schotten Strange findet auch Johann Heinrich Lips (1758-1817) Poussins Komposition faszinierend. Aus der Bezeichnung seines Blattes geht hervor, dass er, da ihm das Gemälde nicht zugänglich ist, sich an Strange als Vorbild gehalten hat. Dessen seitenverkehrte Wiedergabe wird durch die erneute graphische Darstellung im Gegensinn wieder „richtig“. Auch Koch kann das Werk in Stourhead nicht kennen. Bei seinen davon inspirierten Figurengruppen orientiert er sich wohl vor allem an Lips. Der hochgeschätzte Schweizer Kupferstecher, der Goethe in Rom und später in Weimar nahesteht, kehrt 1794 nach Zürich zurück. Da könnte ihm Koch auch begegnet sein. 

Nicolas Poussin, Herkules am Scheideweg und seine Nachwirkung: Joseph Anton Koch, 1793

J. A. Koch frei nach Poussin, 1793, Kunstmuseum Basel

Joseph Anton Koch, Herkules am Scheideweg, sign. und 1793 dat., Feder in Braun, Deckfarben und Aquarell, 21 x 24,9 cm, alte Montierung, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Inv.Nr. 1946.115, Foto Museum

Ende 1791 flieht der junge Koch aus Stuttgart. Der ehem. Hirtenjunge in den Bergen entdeckt bis Ende 1794 in der Schweiz, seinem „Land der Freiheit“, nun als Künstler die Großartigkeit der alpinen Gebirgswelt. Ein apartes Nebenprodukt ist diese freie Auseinandersetzung mit Poussin. Das Gemälde des Franzosen kann er nicht gesehen haben, aber graphische Wiedergaben. Herkules hat sich noch nicht ganz entschieden. Zwar lockt die Tugend mit einem Ruhmestempel in bergiger Höhe, dafür das Laster in luftiger Kleidung mit einem Leben in Genuss und Müßiggang. Das bringt Herkules ins Grübeln. 

Der junge, frivole Goethe lässt in seiner übermütigen Farce Götter, Helden und Wieland im Traum Herkules auftreten. Der poltert los: „Laster, das ist wieder ein schönes Wort. Dadurch wird eben alles so halb bei euch, daß ihr euch Tugend und Laster als zwey Extrema vorstellt, zwischen denen ihr schwankt … Wären mir die Weiber begegnet, siehst du, eine unter den Arm, eine unter den, und alle beide hätten mit fortgemußt …“