Neue Ansätze für Stuttgart beim „Ideen-Workshop Kulturquartier“. Fünf internationale Architekturbüros bieten sie Anfang November 2019 auf Einladung durch den „Aufbruch Stuttgart e. V.„.

Von dem Stuttgarter Architekten Arno Lederer angeregt, fand vom 2. bis 4. November im Haus der Architekten der „Ideen-Workshop Kulturquartier“ statt. Er wurde möglich dank vieler Spenden von Menschen, denen Stuttgarts Entwicklung am Herzen liegt. Aber ebenso durch die Großzügigkeit der renommierten Kollegen, die sich Lederer und unserer Stadt verbunden fühlen. Allerdings war auch die Themenstellung sehr reizvoll. Die einzelnen Teams umfassten 4 bis 9 Personen. und die Büros begnügten sich trotz eigener hoher Kosten jeweils mit einem sehr bescheidenen Salär. Auch dies ist eine Art Spende an die Stuttgarter Stadtgesellschaft.

Es ging nicht allein um die sog. Kulturmeile, sondern um den Gesamtbereich, den die Untere Königstraße, Schillerstraße, Urbanstraße und Planie umfassen.

Unabgesprochen gelangen alle 5 Büros zu 5 Hauptergebnissen

OPER: Der denkmalgeschützte Littmann-Bau soll erhalten, im Rahmen seines Charakters saniert werden und für kleinere Opernaufführungen, Ballett, Konzerte u. a. bereitstehen. Alle Büros schlagen eine 3. SPIELSTÄTTE vor, wodurch das Kunstquartier ein prägendes neues Element erhielte.

Die derzeit geplante grundlegende „Sanierung“ des Littmann-Baus liefe nämlich auf einen Umbau und partiellen Neubau mit nicht kalkulierbaren Kosten hinaus, ohne dass ein stadträumlicher Gewinn damit verbunden wäre.

SCHLOSSGARTEN: Der Bereich bis zur Schillerstraße wird als „Herz“ der Stadt gesehen. Alle Büros lassen die Mittelachse von Nikolaus Thouret, die das Stadtbild prägte und von 1807 bis 1959 existierte, wieder aufleben. Das aber geschieht in neuen Formen.

PLANIE: Die zentrale Querachse zum Talverlauf soll Wieder hergestellt werden. Und das zusammen mit dem Dreiecksplatz am Waisenhaus und mit der Rückverwandlung der Charlottenkreuzung zu einem wirklichen Platz.

AKADEMIEGARTEN: Alle Büros sehen die Notwenigkeit einer architektonischen Fassung dieses Bereichs.  Denn die Stätte der ehem. europaweit bekannten Carlsakademie bietet seit ca. 1960 eine stadträumlich und akustisch unbefriedigende Situation. Dies empfindet nicht nur Ascan Mergenthaler so.

TALQUERUNGEN: Neubewertung der Talquerungen und der für Stuttgart so charakteristischen Stäffele gäbe der Stadt ein neues Gleichgewicht.

Herzog & de Meuron, Basel

Neue Ansätze für Stuttgart – Herzog & de Meuron: Gesamtquartier von oben
Herzog und de Meuron, vertreten durch Senior Partner Ascan Mergenthaler und zeitweilig auch Pierre de Meuron, bieten zunächst eingehende Analysen der räumlichen Verhältnisse im Neckarbereich. Sie blicken auf den Großraum Stuttgart, auf Stuttgart und schließlich auf das Zentrum der Stadt. Sie schlagen eine Spiegelung der Verhältnisse entlang der Thouret’schen Parkachse vor. Auskunft im Detail ergibt ihre unten folgende Texttafel mit 10 Maßnahmen.

Hervorzuheben sind die Teilung und Doppelung des Eckensees, die Wiederherstellung der Planie und Doppelung an der Schillerstraße sowie die Doppelung von Schlossplatz und Akademiegarten. Die gelben Flächen bezeichnen Plätze und Höfe, die Reihe blauer Kreise zeigt Wasserflächen mit Brunnen, die den Nesenbach und Stuttgart als Stadt der Mineralwasser vergegenwärtigen. Die zwei grünen kreisrunden Inseln am Charlottenplatz und Gebhard-Müller-Platz sind Blicke hinab in einen künftigen, tiefer gelegten Boulevard und seine „Tiefhöfe“.

Eine Grundsatzerklärung

Herzog & de Meuron: Grundsatz zur Konzentration auf Stuttgarts Zentrum

Neue Ansätze für Stuttgart – Herzog & de Meuron: Schrägsicht mit den
Herzog & de Meuron spiegeln die Littmann-Oper an die Königstraße. Damit soll deren einseitige Konsumorientierung im Sinne ihres ursprünglichen Charakters als Prachtstraße der Stadt ausgeglichen werden. Konsum und Kultur sollen sich mischen. Neben diese Oper setzen sie ein Konzerthaus und schaffen mit beidem auch wieder eine ansehnliche Front zum Park anstelle der gegenwärtigen Ödnis dieses Bereichs. Ein weiterer Zwillingssteg führt über die Schillerstraße. Um den Verzicht auf Konsumflächen an der Königstraße wettzumachen, gibt es anstelle des etwas faden Abgeordnetenhauses an der „Kulturmeile“ ein Konsumgebäude und anstelle des zu flachen Staatsarchivs eine Markthalle.

10 Maßnahmen

Herzog & de Meuron: 10 Maßnahmen
Den 10 Maßnahmen von Herzog & de Meuron ist nichts hinzuzufügen. Dringend sollten sie aber gelesen werden. Ascan Mergenthaler hat sie auf dem Workshop nicht in toto vorgestellt, nur knapp skizziert. Nicht zur Sprache kam der Vorschlag unter Nr. 8, den Hauptbahnhof in ein Museum zeitgenössischer Kunst zu verwandeln. Davon erfuhr ich erst beim Schreiben dieser Zeilen.

Kurios ist es, dass ich ohne Kenntnis dieser Idee von Herzog & de Meuron bei meinem Besuch von Paris am 6. November den gleichen Einfall hatte. Ich verfasste meinen Beitrag spontan nach dem Besuch des Musée d‘Orsay, einem ehem. Bahnhof. – Nach dem Bericht über die Umbaupläne der Bahn vom 27. November in der Stuttgarter Zeitung kommt unsere Idee aber wohl schon zu spät.

MäcklerArchitekten, Frankfurt

Neue Ansätze für Stuttgart – MäcklerArchitekten: Gesamtplan von oben
Christoph Mäckler Architekten: Christoph Mäckler übernimmt für den Schlossgarten, das Herz Stuttgarts, einfach die Vorkriegssituation, ohne hier genauere Vorschläge zu machen. Interessant ist seine bauliche Erinnerung an die Carlsakademie hinter dem Neuen Schloss, die diesem Bereich eine lange verlorene Qualität und Ruhe wiedergibt und zugleich dem Landtag etwas von seinem Schlingern im Grünen nimmt. Dem dient auch ein kleiner Bau auf dessen Parkplatz bei der Oper.

Mäckler: Gesamtplan mit Erläuterungen
Christoph Mäckler: Erläuterungen. Mit dem interessanten Vorschlag einer Konzerthalle an der Schillerstraße greift er Gedanken auf, die bereits Theodor Fischer als Konkurrent von Max Littmann vor gut 100 Jahren entwickelt hat. Diese Lage fand damals die Stadt entschieden besser als den von König Wilhelm II. durchgesetzten Bauplatz und heutigen Ort der Staatstheater an der Neckarstraße/B14.

Neue Ansätze für Stuttgart – Mäcklers Idee für die Bauentwicklung gegenüber der Staatsgalerie
Noch wichtiger aber ist Christoph Mäcklers spannende Idee, an der Ecke B14/Schillerstraße als Pendant zur Littmann-Oper eine 3. Spielstätte zu errichten. Zusammen mit deren Flügelbau ergäbe sich mit der Alten Staatsgalerie eine Torsituation für das Kulturquartier. Alle drei Bauten von Oper und Theater sollen nicht nur durch gemeinsame Werkstätten, sondern auch durch ein langgestrecktes Foyer miteinander verbunden werden. Das Ganze wäre ein sehr gutes Gegenüber für die Staatsgalerie und ein Riesensprung in der Aufwertung der bisher zu Unrecht so genannten „Kulturmeile“.

Allmann Sattler Wappner Architekten, München

Neue Ansätze für Stuttgart – Allmann Sattler Wappner: Gesamtplan
Allmann Sattler Wappner Architekten: Markus Allmann präsentiert Überlegungen, von denen einzelne den Vorstellungen Mäcklers nahe stehen – doch das ohne irgendwelche Absprachen. Nach Zürcher Muster schlägt er vor, das Gebäude des Königin Katharina Stifts um 20 m in Richtung Königstraße zu verschieben, um dann auf dem Areal bis zur B14 eine neue Spielstätte für die Oper zu errichten zu können.

Allmann Sattler Wappner: 3. Spielstätte gegenüber Alter Staatsgalerie
Die 3. Spielstätte bietet ein eindrucksvolles Gegengewicht zur Alten Staatsgalerie. Ein Hochhaus an der Ecke Schillerstraße/Willy-Brandt-Straße soll das Kulturquartier signalhaft eröffnen und helfen, die dortige Kreuzung in einen Platz rückzuverwandeln.

Allmann Wappner Sattler: Schrägsicht auf Situation bei der Alten Staatsgalerie
Der Turmbau am Gebhard-Müller-Platz korrespondiert auch mit einem den Hang hinaufgebauten, größeren Schulprojekt, das dem Königin Katharina Stift eine zeitgemäße Entwicklung bieten könnte. Die Stufung des Baus findet eine Parallele in der Terrassierung der neuen John Cranko Schule an der Urbanstraße.

Allmann Sattler Wappner: Situation Akademiegarten
Sehr verwandt den Mäcklerschen Überlegungen ist die bauliche Fassung des Akademiegartens, die auch den Dreiecksplatz gegenüber vom Waisenhaus wieder erstehen lässt. Der Bereich Eckensee wird um zwei weitere Wasserflächen erweitert. Die tristen Parkseiten der Gebäude an der Königstraße und der tunnelartige Durchgang zur Straße werden durch einen Neubau belebt, der die Kronenstraße bis in den Park führt und damit eine zentrale Querachse entscheidend aufwertet.

KAW, Rotterdam

Neue Ansätze für Stuttgart – KAW, Rotterdam: muntere Wasseranlagen in den Hauptachsen
Koöperative Architekten Werkplaats = KAW, vertreten mit großem Elan von seinem Direktor Reimar von Meding, betont vor allem die Querachsen als Mittel, um die Längsorientierung der Talaue aufzulockern. Kühn werden Bassins mit Mittelsteg in der Breite der Neuen Staatsgalerie über die B14 vorgeschlagen. Sie führen zu einem Parkareal hin, in dem man sich sommers am Wasser, winters mit Schlittschuhen erfreuen kann. Wassergewohnt lassen die Rotterdamer Architekten eine regelrechte Wasserlandschaft entstehen, unter Einbeziehung eines etwas verkleinerten Ovalsees à la Thouret. Der ganze Park pulsiert von Leben.
Der Landtag wird von einem Geviert aus Bäumen umfriedet. Vom großen Lesesaal der Landesbibliothek gelangt man über die B14 zu einer 3. Spielstätte auf dem Areal der ehemaligen Carlsakademie.

KAW: Blick von Neuer Staatsgalerie über Wasserbassins zur OperKAW: 3. Spielstätte
KAW: Blick von der Neuen Staatsgalerie hinüber zum Schlossgarten, rechts ein Neubau an der B14, hinten die monumentale Spinnenskulptur „Maman“ von Louise Bourgeois. Die klassizistischen Skulpturen aus dem Schlossgarten begleiten den Fußgängersteg.

3. Spielstätte am Akademiegarten
KAW: Blick von der 3. Spielstätte an der Südseite des Akademiegeländes in Richtung Löwenbrunnen und Rückseite des Neuen Schlosses.

Urban-Think Tank, Zürich

Neue Ansätze für Stuttgart – U-TT: Gesamtplan
Urban-Think Tank = U-TT: Hubert Klumpner präsentiert ein neues Zusammenwirken von Längs- und Querachsen. Ein urbanes Band in Kolonnadenform soll die Bauten und Räume in quasi italienischer Weise miteinander verbinden. Das gleiche Ziel verfolgt ein Kolonnadenband entlang der Parkseite der Gebäude an der Königstraße, sodass deren Langweile verdeckt wird.

U-TT: Schlossplatz bei Nacht
Entscheidend ist die Neubewertung und öffentliche Verwendung des Neuen Schlosses. Sein Hof soll zumindest zeitweilig eine großräumige Spielstätte aufnehmen und das Schloss ein Bau der Bürger werden.

U-TT: Längsachsen parallel zu der Thourets
Zu der Tal-Längsachse von Nikolaus Thouret aus dem Jahr 1806 wurden die Neckar-, Urban- und Olgastraße parallel angelegt und U-TT orientiert sich erneut an diesem Gründungselement für die Stadtentwicklung in Richtung Neckar.

U-TT: Rolltreppen bei den Stäffele
Gleichzeitig kann sich U-TT kühne Lösungen im Bereich der Stäffele vorstellen. Anstelle von Garagen entstehen unterirdische Läden.

Eugenstaffel

Theaterplatz von James Stirling mit versperrter Eugenstaffel
Wenn von einer Neubewertung der Stäffele gesprochen wird, kann man schwerlich die schönste übergehen: die Eugenstaffel. Sie startet am noblen Theaterplatz, den Stirling und seine Nachfolger in der Achse der Oper schon vor über 20 Jahren gebaut haben. Ziel dieser Staffel ist die Meeresgöttin Galatea, ein Prachtweib und ein Prachtwerk der Gründerzeit sowie zugleich eine Art Schutzpatronin der mineralwasserreichen Stadt Stuttgart. Doch ist der Blick zu ihr nicht möglich, zu keiner Jahreszeit. Das üppige Grün wird seit Jahren nicht zurückgeschnitten. Vgl. Galatea und die Eugenstaffel.

Nun wird endlich eine weitere Fußgängerquerung über die B14 geplant, aber nicht in der Achse von der Oper bis hinauf zum Eugensplatz, sondern an der zweitrangigen Ulrichstraße. Behauptet wird, es gäbe bei der Eugenstraße Staus und dort würde auch bald gebaut. Bis zum Beginn des Sanierens und Umbauens vergehen aber noch mindestens 5 Jahre und Staus sind die Stuttgarter gewöhnt. Warum nicht zumindest einmal am richtigen Ort die Eignung und Probleme für einige Monate mit einer Baustellenquerung testen?! Die findet man doch derzeit an vielen Stellen in der Stadt, warum also nicht auch hier, um zur schönen Galatea zu gelangen?!

KAW: Neuplatzierung des Schicksalsbrunnen
… man doch bei der Oper den Übergang über die B14 – zumindest testweise – ermöglichen würde?! Die Rotterdamer Architekten KAW sehen dafür sogar die ganze Breite der Oper vor. Dann platzieren sie noch auf dem grünen Mittelstreifen den Schicksalsbrunnen. Damit käme auch dieser wieder zu einem Ort und einer Geltung in unmittelbarer Nähe seiner ursprünglichen Aufstellung. Denn er stand von 1914 bis 1963 am Künstlereingang der Oper – zum Gedenken an die Sängerin Anna Sutter. Sie wurde 1910 in Carmen-Manier getötet.

Die beleidigte Galatea wendet sich von der Stadt ab

Galatea wendet der Stadt beleidigt den Rücken zu
Hier sieht man, was bald passieren wird. Wegen ihrer Missachtung durch die Stadt, hat sich Galatea umgedreht – so wie schon 1890 bei ihrer Aufstellung ins Auge gefasst. Damals empörten sich viele wegen ihrer Formen, heute ist sie dagegen verletzt, weil ihr als einer Sehenswürdigkeit der Stadt nicht die verdiente Beachtung zuteil wird. Deshalb kehrt sie Stuttgart den Rücken zu.

Sollten die Verantwortlichen nicht demnächst die Blickachse ihrer Staffel frei schneiden lassen und sich nicht angemessen mit den hier und anderorts bekannt gemachten neuen Ideen für das Kulturquartier auseinandersetzen, so hat mir Galatea vertraut, will sie nicht mehr auf ihre Stadt hinabblicken.

Man muss schießen …

KAW: Man muss Tore schießen
Der Satz gilt nicht nur für den VfB, er gilt für ganz Stuttgart.

Sollten wir nicht, wie KAW suggeriert, Mut, Begeisterung und Entscheidungsfreude sowie auch Risikobereitschaft zeigen, um unsere Stadt zu verschönern und speziell das Kulturquartier als ihr Herz zu beleben?! Brauchen wir nicht Entscheidungen wie vor gut 40 Jahren für Stirlings Neue Staatsgalerie, die Stuttgart zeitweilig als Architekturstadt weltweit zu einem Pilgerort machte?! Warum sollte es nicht auch bei uns eine Art „Elbphilharmonie“ oder eine Oper vom Rang derjenigen in Sydney geben ?

Also: Nichts weiter auf die lange Bank oder in Schubladen schieben, sondern handeln und die Weiterentwicklung der Stadt kurz- und langfristig angehen, mutige Entschlüsse fassen und entsprechende Bauten realisieren! Stuttgart würde ein neues, frisches Aussehen erhalten. Will sagen: es heißt Tore zu schießen und Treffer zu erzielen auf dem Feld der Stadtplanung und Architektur.