Vertigo = Schwindel als Thema der Kunst. Ein gutes Sujet zum Beginn eines Jahrzehnts mit fast Schwindel erregenden Problemen und Aufgaben!
Die gleichnamige, sehr anregende Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart erweckt schon vor Betreten der Ausstellungsräume gewisse Irritationsgefühle. Der Blick vom ersten halben Treppengeschoss bietet pfeilartige Lichtstrahlen in Richtung StadtPalais. Es handelt sich nicht um einen Angriff, nicht um Geschosse, sondern um Spiegeleffekte von der Deckenbeleuchtung des Foyers.
Wer denkt da nicht an „Vertigo“ von Alfred Hitchcock?
Bridget Riley, Blaze 2, 1963, Ausschnitt
Die Altmeisterin des Themas Schwindel eröffnet brillant die Schau. Die Erinnerung an Vertigo von Alfred Hitchcock aus dem 1958 ist sofort da. Eine plane Fläche zieht durch Mittel der Kunst als Augentäuschung uns in die Tiefe. Ohne dass geschwindelt wird, droht uns Schwindel.
Matthias Grünewald, Maria der Verkündigung, Ausschnitt, 1528, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin
Bereits Grünewald war vor rund 450 Jahren ein Meister einer Art von Schwindelerregung. Fast unglaublich ist seine Darstellung der Faltenpracht des Umhangs von Maria.
Ein schwebendes Etwas bei Holbein
Hans Holbein d. J., Die Gesandten, Ausschnitt, 1533, London, The National Gallery
Zu den schönen Beispielen raffiniertester Augentäuschung und bildlicher Verrätselung, die die Ausstellung „Vertigo“ bietet, hätte auch das weltbekannte, natürlich nicht ausleihbare Meisterwerk Holbeins in London gehören können. Es zeigt ein schwebendes Etwas über der Boden, das sich erst bei Seitensicht zu einem Totenkopf verdichtet. Ein fast Schwindel erregendes Kunststück von Malerei.
Kunstmuseum Stuttgart, Treppenhaus, mittleres Geschoss
Die vielen Facetten des Schwindels, der Irritation und des Taumelns werden von Effekten der Architektur des Kunstmuseums begleitet.
Die Beschriftung und die Streifen auf der Fassade, die den Blick nach außen beengen, bereichern die Situation nach innen. So wird z. B. hier der Schatten der Zahl 5 berührt von dem Schatten eines Mannes, von dem nichts als die Schuhspitze zu sehen ist. Sein forsches Herantreten spiegelt aber die gestreifte Glasfront neben der Zahl 1, deren Schattenbild am Boden aber weitgehend von ihm verdeckt wird.
Kunstmuseum Stuttgart, Treppenhaus, oberstes Geschoss Richtung Osten
Hier werden die Wahrnehmungsschichten noch komplexer. Fast könnte man von einem Schwindel der Sinne und einer Verwirbelung sprechen. Man blickt direkt auf den Schlossplatz, links den Olgabau und daneben das Kunstgebäude. Rechts davon befindet sich das Schloss, das aber nicht zu sehen ist. Stattdessen das Spiegelbild der Königsbau Passagen, die sich links vom Bildfeld befinden, sich aber rechts in der inneren Glasfront des Museums spiegeln als scheinbare Fortsetzung des Kunstgebäudes.
Vertrackter noch die Situation bei Bauten weiter im Süden des Museums. Die linke Glasfront zeigt auch die Schattenformen dreier Turmbauten. Die beiden äußeren stammen von der Stiftskirche, in leichter Doppelung dank der Zweifachverglasung. In der Mitte steht der kleinere, weil fernere Turm des Rathauses – allesamt schattenartig gespiegelt, weil sie realiter im Gegenlicht der Morgensonne stehen, die alles Übrige winterlich-freundlich beleuchtet.
Vertigo = Schwindel als Thema der Kunst: insgesamt ein beglückendes Schwindelerlebnis!