Glück im Unglück auf dem Friedhof: dort bin ich ausgerutscht, aber – wie man so sagt – noch nicht gelandet.
Samstag, 28. September 2024: morgens auf halbem Weg zu Ingas Grab auf dem Pragfriedhof gleite ich auf einer feuchten, leicht bemoosten Steinplatte aus und schlage rückseitig mit dem Kopf auf eine Grabsteineinfassung. Ein englisches Käppi mildert den Aufprall. Der sehr heftige, vorher nie gekannte Schmerz lässt schnell nach. Keine Sekunde bin ich ohne Bewusstsein. Die Notfallfunktion der Apple Watch funktioniert. Sitzend stelle ich sie ab, um niemanden aufzuscheuchen. Das ist ein Fehler.
Denn kaum richte ich mich auf, tropft fortlaufend Blut vom Kopf, sodass ich für gut 20 min nur nach vorne gebeugt dastehen kann. Das wird bald anstrengend. Ich gehe in die Hocke. Das Blut fließt dann stärker – dank des Medikaments ASS 100, das die Blutgerinnung verringert. Es bildet sich bald eine Blutlache. Dann auch auf dem Verursacher-Grab, weil ich mich dort abstützen muss.
Das blutverschmierte iPhone erkennt mich nicht mehr. Mühsam wähle ich 112 und etwa 12 min später sind drei nette junge Männer da und nehmen sich meiner an. Einer holt eine Gießkanne, um das Blut zu beseitigen. Ich mache bereits eine dumme Bemerkung: sonst könne die Stelle ja für einen Vorabendkrimi mit dem Titel „Mord auf dem Friedhof“ verwendet werden.
Auf die wirklich harten Detailfotos verzichte ich hier. Diese Aufnahme entsteht im Notfallwagen auf dem Weg zum Katharinenhospital. Dort werde ich ausgerechnet in der Notfallstation sehr gut umsorgt, die ich durch Inga vor gut einem Jahr kennenlernen musste.
Wegen großen Andrangs und wenigen Personals bleibe ich über drei Stunden in der Klinik. Eine sympathische Rheinländerin übernimmt es, mir „den Kopf zu waschen“ und die 4,5 cm breite Wunde zu reinigen.
Dann legt mir die Krankenschwester einen fast schmerzhaft engen Verband an, der den Blutfluss stoppt. Hier bin ich fast schon munter, warte noch auf eine CT und das Vernähen der Wunde. Das geschieht zuletzt mit 8 Fäden unter örtlicher Betäubung.
Glück im Unglück auf dem Friedhof
Mit Billigung des KH darf ich gehen, stärke mich erst einmal bei Manufactum, kaufe mir fehlende Weingläser und wandere, allerdings langsam, 2 km zum Friedhof und meinem Auto. Ich war bereits wenige Minuten nach dem Sturzvöllig völlig schmerzfrei und bin es seitdem.
Vor gut einem Jahr stürzt Inga unglücklich und erleidet ein schweres Hirn- und Schädeltrauma. Gemessen an mir hat sie kaum äußerliche Schäden (dank Fahrradhelm), doch sie stirbt nach fünf Monaten.
Mich treibt nachts ein irres innerliches Durcheinander um. Frage mich, warum das Leben Inga nicht etwas weniger Schaden und mir etwas mehr hätte zumuten können. Dann wären wir vielleicht noch zusammen. So erscheint manches ungerecht: sie tot und ich munter.
Auch selbst erlebte Beispiele von Todesnähe tauchen nachts wieder auf:
1) Ca. 1956 überholt mein älterer Bruder mit seinem Rad aus jugendlichem Übermut mit vielleicht 40/45 km Tempo auf einer abschüssigen, baumbestandenen Straße mit vielleicht 40/45 km Tempo den Schulbus – mit Gejohle der Mitschüler im Bus. Mittags setzt er sich im Schulhof auf das Rad und die Vordergabel bricht. Nachmittags bekommt unsere Mutter einen Schock.
2) 1965 arbeite ich sonntags im Kunsthistorischen Institut in Florenz menschenseelenallein im Fotoatelier. Aus Geldmangel mache ich selbst Fotoabzüge. Der Steinboden ist nass. Da gibt es plötzlich einen Kurzschluss. Zufällig stehe ich auf einem Lattenrost. Das rettet mich.
3) April 2009 in Isfahan: auf einer steinernen Plattform mache ich von Inga Fotos auf einem Löwen. Um sie besser aufzunehmen, gehe ich rückwärts, realisiere aber nicht, dass es einen Höhensprung von ca. 80 cm gibt. Ich kippe rückwärts weg und denke in Sekundenbruchteilen an Querschnittlähmung oder Tod. Doch Mitreisende berichten mir mit riesigem Erstaunen: ich hätte mich im Fallen wie eine Katze gedreht. Ich knalle auf die Füße auf und bin nur davon benommen.
4) Etwa 40 m von Ingas Ruhestätte hätte ich mir am vergangenen Samstagmorgen auch das Genick brechen oder bei anderer Kopfhaltung das Gesicht halb zerschlagen können. Was hatte ich für ein Glück im Unglück auf dem Friedhof! – Was bedeutet das alles?
1965 sagte mir abends der befreundete, etwas ältere Kunsthistoriker Matthias Winner nur: ANGELO CUSTODE – Schutzengel.
Ich kann mir vorstellen, dass Inga diese Rolle jetzt ausübt. Hier ist sie zu sehen auf einer Wanderstudienreise im Baltikum, in einem sehr glücklichen Moment im Herbst 2009 in Vilnius.
Vielleicht will sie mich jetzt noch nicht bei sich haben?! – Das alles sind wenige von vielen wirren Gedanken im Halbschlaf.